Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Ute Raßloff: Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ute Raßloff. Stuttgart: Steiner, 2013. 460 S., Abb., Tab. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 41. ISBN: 978-3-515-09843-4.

Inhaltsverzeichnis:

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Wie „im richtigen Leben“ des 21. Jahrhunderts, so hat auch in der Geschichtswissenschaft längst die Heterogenität die Homogenität als Leitvorstellung abgelöst. Spätestens seit dem nicht endenden Siegeszug der Kulturgeschichte mit ihren zumindest impliziten postmodernen Konnotationen hat sich in der Forschung das Uneinheitliche, das Disparate als eine bevorzugte konzeptionelle Kategorie historischen Fragens und Erkennens etabliert. Ungern reden wir noch über Stromlinienförmiges und Unifiziertes – jeder erweckte Anschein von Einheitlichkeit in der Beschreibung vergangener Phänomene macht vielfältig angreifbar und suggeriert eine durch kognitive Beschränkung hervorgerufenen Selbsttäuschung. Verallgemeinernde Zuschreibungen und separierende Kategorisierungen sind „out“ – und zwar insbesondere, wenn es um Fragen nach Ethnien und ihren Kulturen geht. Stattdessen geht es einer modernen, noch dazu interdisziplinär aufgestellten Kulturwissenschaft bevorzugt um Berührungen, Zusammenspiele, Wechselwirkungen, Kreuzungen, Überschneidungen und Überlagerungen – eben um: Interferenzen, die der Kultursoziologe Reckwitz als „Überlagerungen und Überschneidungen von Wissensordnungen und ihrer Sinnmuster“ (S. 18) definiert. Der vorliegende, aus einem GWZO-Projekt hervorgegangene Aufsatzband möchte den Begriff der Interferenz als „Entwurf, Denkfigur oder Redeweise“ in den kulturwissenschaftlichen Diskurs einbringen, als „kleinsten gemeinsamen Nenner einer in Material, Fragestellungen, Methoden und Wissenschaftstraditionen … sehr vielgestaltigen Sammlung von Texten“ (S. 11). Mit subtiler Doppelbödigkeit weist Herausgeberin Raßloff zusammen mit Andreas Hof­mann in der Einleitung darauf hin, dass der multidisziplinär angelegte Band nicht nur in seinen geschichts-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Beitragen nach Interferenzen suche, sondern auch in seiner Anlage „Ausdruck, Ergebnis und Beleg von Interferenz“ sei (S. 13).

Den gemeinsamen geographischen Ankerpunkt der interferierenden Autoren und Themen bildet das „östliche Mitteleuropa“, wobei der Radius der durchaus umfangreichen Beiträge von Prag bis Galizien und von Posen bis zur Adria reicht. Winfried Eber­hard führt zu Beginn in jenes Territorium und seine typischen „Gemengelagen“ ein, indem er mit einer besonderen Betonung auf Mittelalter und Früher Neuzeit Langfristige Strukturen Ostmitteleuropas als Voraussetzung für kulturelle Interferenzen darlegt und dabei vor allem auf vier „strukturbildende Faktoren“ abhebt: Multiethnizität, konfessionelle Pluralität, imperiale Konstellationen und außerordentliche Adelspräsenz. Anna Veronika Wend­land analysiert sodann Galizien als Referenzraum kultureller Interferenz und kommt dabei zu den Schlüssen, dass die „synthetisch … generierte Neoregion“ (S. 53) Galizien zwar aufgrund spezifischer Strukturen für Fragestellungen nach Interferenz gut geeignet, aber keineswegs ein Unikat sei und schon gar nicht zur harmonisierenden Idealisierung musterhaft gelebter Heterogenität tauge. Interferenzen entstanden demnach gerade in Folge von Verwerfungen, die etwa von sozialen und räumlichen Mobilisierungen im 19. und 20. Jahrhundert ausgelöst wurden – eine dezente Erinnerung daran, dass transkulturelle Phänomene nicht immer nur durch die ethnische Brille zu betrachten sind. Im letzten Abschnitt lotet Wendland schließlich noch Perspektiven postkolonial informierter Ansätze zu Galizien aus, was über die Konstruktion kultureller Differenzen und Hierarchien und von damit verbundenen „Aus- und Einschließungsvorgängen“ (S. 89) ebenfalls zum Befund durchaus „negativ“ konnotierter Interferenzen führt. In gewisser Weise scheint hier eine Parallele auf zu Lenka Řezníkovás folgendem Beitrag über die Suche nach Differenzen als Interferenzprozess. Praktiken der nationalen Abgrenzung in Prag um 1900, denn im Mittelpunkt steht die Konstruktion ethno-nationaler Differenzen unter den Bewohnern Prags, die gerade in Abgrenzungsprozessen miteinander interferierten. Scharfsinnig arbeitet Řezníková heraus, dass erst Differenzen konstruiert werden mussten, damit man dann im Nachhinein geradezu sehnsuchtserfüllt Interferenzen entdecken konnte: „Die Unterschiede [zwischen den in Prag beheimateten Ethnien – M.S.] waren demzufolge nicht die unmittelbare Ursache für die Herausbildung der nationalen Identität, sondern in vielerlei Hinsicht paradoxerweise ihre Konsequenz“ S. 137).

Borbála Zsuzsanna Török schreibt über Die Kunst, provinziell zu sein. Siebenbürgische Landeskunde als Wissenschaft und literarische Fiktion, ein Thema, das Potential für zwei Interferenzszenarien hat: Wissenschaft und Literatur einerseits, Texte von Autoren unterschiedlicher Ethnien anderseits. Dabei widersteht die Autorin nicht gänzlich der Versuchung einer deskriptiven Auflistung literarischer Produktionen aus Siebenbürgen, so dass Fragen und Antworten gerade zu den Interferenzen in der Untersuchungsregion zu kurz kommen. Einen ethnologischen Blick auf Interferenzen zwischen Slowaken, Deutschen und Ungarn in einer Kleinstadt wirft Gabriela Kiliánová: Tod und Tödin in Medzev. Interferenzen der kulturellen Repräsentation in einem mehrsprachigen Kommunikationsraum bietet anhand der Gestalt des Todes interessante Detaileinblicke in Beziehungen, Überlappungen und Nichtberührungen zwischen sprachlich-ethnischen Gruppen am kleinräumigen Beispiel. Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass auch zweifelsohne vorhandene Interferenzen bisweilen schwer nachzuweisen sind. Grenz(ver)handlungen und Grenz(er)findungen im Kontaktraum Burgenland und Westungarn. Repräsentationen eines Raumes stellen das Thema des Beitrags von Laura Hegedűs dar. Ziel ist es, mittels „literarisch vefasste[r] Raumentwürfe des Grenzraumes Burgenland/Westungarn“ dem „Wechselverhältnis zwischen empirisch Realem und fiktiver Konstruktion anhand der Überlagerung verschiedener Grenzarten nachzugehen“ (S. 258). Interferenzen werden dabei in drei Grenzerzählungen der Autorinnen Flöss, Kristof und Mora auf sprachlicher, personaler und metaphorischer Ebene ausgemacht.

Matteo Colombis breit angelegter Text Vom klassischen zum plastischen Karst. Darstellungswege in einem kulturellen Interferenzraum stellt am Beispiel des nordostadriatischen Karstgebietes Fragen nach Konzeptualisierungen von Interferenzen zwischen Slowenen und Italienern. Dabei kommen Quellen unterschiedlicher Provenienz aus Literatur und Wissenschaft zum Einsatz. Zu eindeutigen Antworten gelangt Colombi, der Anlage des ganzen Bandes entsprechend, nicht, doch führt er mit großem Einsatz verschiedene Herangehensweisen (Stichworte: Nebeneinander-Karst, Gegeneinander-Miteinander-Karst, Ineinander-Karst u.a.m.) an die heterogene Bevölkerung einer mitteleuropäischen Grenzregion vor. Wichtig ist hierbei die Differenzierung zwischen interkulturellen, die sprachlich-ethnische Definierbarkeit betonenden Ansätzen auf der einen Seite und transkulturellen Interpretationen, welche die „relative Stabilität“ der „Identitäten im Karst“ (S. 319) auflösen zugunsten einer permanenten Dynamisiertheit der regionalen Zuschreibungen.

Der ebenfalls anregende Essay über das Metastereotyp in der Geschichte des Posener Gebiets von Andreas R. Hofmann mit dem Obertitel Neuer Besuch bei alten Nachbarn geht der „nationalen Stereotypisierung“ (S. 327) nach. Der Begriff des „Metastereotyps“ soll dabei helfen, die „Doppelgesichtigkeit“ von Stereotypen, die stets eine ich- und eine fremdbezogene Komponente haben, zu betonen. Dementsprechend plädiert Hofmann für den Verzicht sowohl auf ein-seitige Annäherungen an stereotypale Thematiken wie auch auf gerne gepflegte Schnellverurteilungen der Stereotypen als „fehlgeleitete und irrige Meinung[en]“ (S. 368). Stattdessen sollten Stereotypen in ihrer „Ubiquität“ (S. 367) erkannt und in den analytischen Werkzeugkasten von Kulturwissenschaften gelegt werden. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang nicht zuletzt die von Hofmann herausgearbeiteten Wechselbeziehungen zwischen „innerpolnischen und binationalen Stereotypien“, darunter auch der Befund einer hohen Übereinstimmung zwischen polnischen und deutschen Selbstbildern gerade in der Region von Posen, obwohl in diesem Raum mitunter heftige Kämpfe zwischen den Ethnien tobten. Ute Raßloff schließlich widmet ihren Beitrag unter dem Aufhänger Bier oder Käse? den Transformationen des Karpatenräubers Juraj Jánošík als Symptome[n] kultureller Interferenz. Käse respektive Bier stehen dabei für beliebte Verarbeitungen der historischen, vielfach medial aufgegriffenen Figur Jánošíks (bzw. Janoszyks) in der slowakischen und polnischen Nahrungsmittelindustrie. Der zum Draufgänger, Helden und Karpaten-Robin-Hood stilisierte Räuber steckt in seinen zahlreichen, von Raßloff anschaulich und lebendig vorgeführten Facetten voller kultureller Interferenzen von slowakischen, polnischen, tschechoslowakischen und ungarischen Konstellationen, wobei wieder einmal deutlich wird, dass die interferierenden Zeitgenossen unterschiedlicher Epochen nicht immer das Faible nachgeborener Kulturwissenschaftler für die Interferenz teilten: Die Reklamation der transkulturell beanspruchten Figur ausschließlich für sich selbst hatte durchaus ihren wichtigen Platz.

Was bleibt in der Gesamtschau von diesem Band, der, wie die Einleitung betont, nicht nur eine „Buchbindersynthese, vulgo Sammelband“ sein will, sondern „eine kooperative Monographie mit … gedankliche[r] Verschränkung der Einzelbeiträge“ (S. 13) und der seinen Titel der Faszination verdankt, die Wellenkreise einer Wasseroberfläche auslösen können, wenn sie mit anderen Kreisen interferieren? Trotz mancher Bezüge und Parallelen zwischen den einzelnen Themen – der Anspruch einer „kooperativen Monographie“ weckt Erwartungen, die die jeweiligen Beiträge in ihrer Autarkie nicht einlösen können und wohl auch nicht wollen. Auch die Selbsteinschätzung der Herausgeberin, die „Vorstellung von kultureller Interferenz“ lege „eine Schneise der Übersichtlichkeit“ in das „Dickicht der [kulturwissenschaftlichen – M.S.] Begriffe“ (S. 19) wird nicht nur der Rezensent mit Skepsis beurteilen. Und ob wirklich vom Leipziger Projekt und seinem vorliegenden publizistischen Niederschlag die Gefahr eines neuen „turns“ – eines interferential turns – ausgehen könnte, was Raßloff und Hofmann sogleich mit etwas dick aufgetragener Bescheidenheit dementieren? Nein, für einen turn sind wohl doch die Anknüpfungspunkte zu bisherigen Herangehensweisen an kulturelle Überschneidungen und Wechselwirkungen zu deutlich. Auf der Habenseite des Bandes stehen in jedem Fall gut gearbeitete, fachlich fundierte, thematisch anregende, methodisch innovative Beiträge, die nicht nur anspruchsvolle Beispiele interdisziplinär orientierten kulturologischen Forschens vorstellen, sondern eindrücklich für Sinn und Potential des Ansatzes der kulturellen Interferenz argumentieren. Das Konzept ordnet sich auf vielversprechende Weise ein in die Trends kulturwissenschaftlichen Fragens im 21. Jahrhundert. Vielleicht vermag es die Erkenntnis von „Gleichzeitigkeit, Gleichrangigkeit und Wechselseitigkeit“ (S. 19) des Un­terschiedlichen oder des als unterschiedlich Vorgestellten in einem passenden, fahnentauglichen Überbegriff zu bündeln – und zwar auf eine flexible, elastische, nicht einengende, sondern Ambivalenz und Dialektik duldende Weise. In diesem Sinne ist die Interferenz, sind die Wellenschläge tatsächlich ein attraktives Angebot.

Matthias Stadelmann, Bochum

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Ute Raßloff: Wellenschläge. Kulturelle Interferenzen im östlichen Mitteleuropa des langen 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Ute Raßloff. Stuttgart: Steiner, 2013. 460 S., Abb., Tab. = Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 41. ISBN: 978-3-515-09843-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stadelmann_Rassloff_Wellenschlaege.html (Datum des Seitenbesuchs)

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