Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Boris Kolonickij:Tragičeskaja ėrotika“: Obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj mirovoj vojny [„Tragische Erotik“: Bilder der kaiserlichen Familie in den Jahren des Ersten Weltkrieges]. Moskva: Novoe Literaturnoe Obozrenie, 2010. 658 S. = Historia Rossica. ISBN: 978-5-86793-757-7.

Boris Kolonickij zählt sicher zu den rührigsten russischen Historikern seiner Generation, die sich mit der Revolution von 1917 beschäftigen. Russlands große Zäsur des 20. Jahrhunderts treibt ihn um; zu dieser Thematik hat er mehrere lesenswerte Publikationen vorgelegt, und auch dieses Buch über Bilder der Zarenfamilie während des Ersten Weltkrieges hat seinen kognitiven Ausgangspunkt im Zusammenbruch der Autokratie, in der (alten) Frage, wie es denn so schnell und plötzlich dazu kommen konnte. Die Untersuchung von Repräsentationen führender Mitglieder des russischen Kaiserhauses in den Jahren 1914 bis 1917 dient Kolonickij letztlich als Mittel zum Zweck, um auf seine Art jene Frage der Fragen des revolutionären Russland zu beantworten. Dabei ist die Voraussetzung von Kolonickijs Argumentation, das Eingeständnis nämlich, dass die Revolution nicht gesiegt hat, weil sie so stark, sondern weil das Ancien Regime so schwach war, ebenso wenig neu wie die Erkenntnis von der für den autokratischen Zusammenbruch entscheidenden Bedeutung ausbleibender Unterstützung durch die weiten traditionell prozarischen Bevölkerungsteile des Reiches. Dass das Ansehen Nikolajs II., seiner Gattin Aleksandra, des Hofes und der Regierung in unterschiedlichsten Kreisen der Bevölkerung spätestens von 1915 an in rapidem ‚Sinkflug‘ begriffen war, ist allgemein bekannt; dass ab einem bestimmten Zeitpunkt auch unter Systemtreuen kaum jemand mehr bereit war, sich aktiv für die Herrschaft der Romanovs einzusetzen, ebenfalls. Kolonickijs Schlusswort, dass „nicht wenige Menschen darunter litten, dass sie, entgegen ihrem aufrichtigen Wunsch, ihren Zaren einfach nicht lieben konnten“, dass sie zwar „sorgenvoll in die Zukunft blickten, aber den letzten Kaiser nicht mehr unterstützen konnten“ (S. 578), rennt sicherlich offene Türen ein, verweist aber auch darauf, wo Wert und Verdienste dieses Buches liegen: im hohen Rang, den Kolonickij der emotional-mentalen Verarbeitung der spezifischen Umstände jener Jahre einräumt, und im Zugang zu dieser Einstellungsanalyse über die Stilisierung und Wahrnehmung der kaiserlichen Familie.

Kolonickij will eine „Geschichte politischer Liebe“ schreiben, einer „glücklichen und unglücklichen, gegenseitigen und unerwiderten Liebe“ (S. 8), denn ohne die Berücksichtigung einer zutiefst emotionalen Komponente sei dem Verhältnis von Herrschern und Untertanen nicht beizukommen, für das russische Zarentum gelte dies allemal. Als titelgebender Gewährsmann fungiert dabei u. a. der Philosoph Sergej Bulgakov, der seine eigene geistige Beziehung zum russischen Zarentum als „tragische Erotik“ beschrieb. Während Bulgakov den Kaiser immerhin ein Mal im Leben mit eigenen Augen sah, musste die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung ihre – positiven oder negativen – Gefühle für den Herrscher auf der Grundlage medialer bzw. diskursiver Vermittlung entwickeln. Repräsentationen waren hierbei oft wichtiger als reales Handeln. Dementsprechend setzt sich Kolonickij zum Ziel, „jene Bilder der kaiserlichen Familie, die einen besonders starken Eindruck bei den Zeitgenossen hervorriefen, die auf das gesellschaftliche Bewusstsein und auf den politischen Kampf“ einwirkten, zu untersuchen (S. 14). Dabei steht er vor der doppelten Aufgabe, einerseits die Intentionen derer zu dekonstruieren, die die verschiedenen offiziellen kaiserlichen Bilder entwarfen, und anderseits die ebenfalls völlig unterschiedlich ausfallenden Reaktionen darauf sowie die nicht zu bremsenden Eigendynamiken einzufangen. Dass die Quellen aus sich heraus in aller Regel keine direkten Kausalitätslinien zwischen gezielter politischer Sinnstiftung und den Einstellungen der Gesellschaft offenbaren, erhöht noch die Herausforderung.

Vor seine Großkapitel, in welchen die Repräsentationen der zur Zeit des Ersten Weltkriegs wichtigsten Romanovs ausführlichst beschrieben werden, hat der Verfasser – neben der eigentlichen Einleitung – noch drei weitere einführende Kapitel gestellt, die sich zum Teil methodologischen, terminologischen und konzeptionellen Grundlagen der Studie widmen: Das erste dieser Kapitel trägt Überlegungen zur Spezifik von Monarchien und Beispiele von politischen Gerüchten zusammen; das zweite führt kurz in die verwendeten Quellengattungen – Erinnerungen, Tagebücher, Briefe, Unterlagen der Zensurbehörde und des Innenministeriums u. a. – ein, das dritte fügt sich als eine Art quellenkundlicher Beispielsammlung an, wobei der Aspekt der Majestätsbeleidigung im Mittelpunkt steht – schließlich sieht Kolonickij gerade im Studium dieser Delikte einen vielversprechenden Schlüssel zu gesellschaftlichen Negativhaltungen gegenüber dem Herrscherhaus. Dass damit in insgesamt vier Kapiteln auf gut 70 Seiten ‚eingeführt‘ wird, ist konzeptionell nur als unglücklich zu bezeichnen, zumal Kolonickij sich bereits in diesen ersten Kapiteln von seinem beneidenswerten Materialreichtum zur Darlegung locker miteinander verbundener Entdeckungen und Exempel hinreißen lässt, die etwas mehr ‚Zielwasser‘ gut hätten vertragen können. Ähnliches gilt übrigens auch für die am Schluss noch nachgeschobenen kürzeren Kapitel zu „antidynastischen Gerüchten“ und zur Frage nach einem „antimonarchischen Bewusstsein“ in der russischen Gesellschaft.

Die Neigung zu Beispielreihung und rhapsodischer Materialvorführung findet sich auch im Hauptteil des Buches, der die Repräsentationen und Wahrnehmungen Ni­kolajs II., seiner Gemahlin Aleksandra Fedorovna, des Großfürsten Nikolaj Nikolaevič sowie, ganz erheblich kürzer, der Kaiserinmutter Marija Fedorovna beschreibt und hinterfragt. Dabei führt Kolonickij in großer Quellendichte durch die verschiedenen, teils aufeinander folgenden, teils nebeneinander existierenden Stadien und Strömungen von Vermittlung und Rezeption der kaiserlichen Erscheinungsbilder: Bleibt man ausdauernd bei der Lektüre, gewinnt man anschauliche Eindrücke von der „monarchisch-patriotischen Mobilisierung“, von der inszenierten Einheit von Zar und Volk, vom „Zaren-Feldherrn“, vom „einfachen“, aber auch vom „einfältigen“ Zaren, über den Reime kursierten wie „Von Petersburg bis zum Altaj ist niemand dümmer als Zar Nikolaj“, bis hin zur allerübelsten Vorstellung vom „Zaren-Verräter“. Bei Kaiserin Aleksandra geht es in der Vermittlung deutlich zügiger von der Konstruktion positiver Bilder („Die Augusteische Schwester der Barmherzigkeit“) zur bekannten hochgradig negativen Wahrnehmung als „deutsche Zarin“, die zum Schaden Russlands auf verräterische Weise die Regierung geführt und sich dazu als „untreue Gattin“ mit Rasputin der Unsittlichkeit hingegeben habe. Auch beim Onkel des Kaisers, Großfürst Nikolaj Nikolaevič, der als Oberkommandierender zu Beginn des Krieges eine beachtliche Beliebtheit entfaltete, existierten positive wie negative Repräsentationen, wobei die nicht zuletzt aus Eifersucht erfolgte Ablösung des obersten Feldherrn in ihren rezeptiven Konsequenzen symptomatisch war für die Vielschichtigkeiten der mentalen Verarbeitung: Einerseits verbreiteten sich schnell Gerüchte über Inkompetenz und Korrumpiertheit des Großfürsten, anderseits konnte er auch als Opfer der „deutschen“ Hofkamarilla in idealisiertem Licht erscheinen.

Zu vielfältig und vielschichtig sind die Entwicklungen und Nuancen, denen Kolonickij nachspürt, als dass in einer Rezension auch nur eine annähernd adäquate Vorstellung davon gegeben werden könnte. Freilich ist der weidlich ausgekostete Materialreichtum Segen und Belastung zugleich, zumal der Autor seinen Lesern den Luxus zusammenfassender Bündelungen vorenthält. Wer also den Wert dieses faszinierenden Werkes erkennen will, braucht Zeit – und am Ende wohl auch den Willen, sich über die Bedeutung des Beschriebenen manch eigene Gedanken zu machen, etwa zur Frage, wo man letztlich die Gründe für den unerhörten und fatalen Prestigeverlust des russischen Kaisers und seiner Regierung während des Krieges erkennen mag. Versucht man dies zuzuspitzen, gerät man unweigerlich zu erschreckend banalen Überlegungen: Ob es nicht doch ‚nur‘ die militärischen Misserfolge und die materiellen Nöte waren, die die Stimmung kippen ließen? Hätte man bei einem siegreich verlaufenen Krieg über einen „dummen Schwächling“ auf dem Thron oder „deutsche Verräter“ in St. Petersburg überhaupt herziehen müssen? Hätte die Gesellschaft der kaiserlichen Familie ihre Liebe überhaupt entziehen müssen? Und auch wenn man Kolonickijs mehr beiläufig formulierte These übernimmt, die Autokratie sei an ihrer eigenen national-patriotischen Mobilisierung gescheitert, da diese über Herrscher und Hof hinweggeschwappt sei, bliebe der Krieg Vater der stürzenden Dinge: Ohne die paneuropäischen Dummheiten von 1914 hätte es der übersteigerten nationalistischen Aufrüstung des Geistes im Zarenreich nicht bedurft. Doch soll solche provozierende historiographische Erdennähe nicht die Leistung Kolonickijs schmälern, der nicht nur ein überbordendes, dabei fesselndes Gemälde politischer Kulturen in Russland während des Ersten Weltkrieges vorgelegt hat, sondern auch einen weiteren Beitrag gegen eine Teleologie der Revolution.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Boris Kolonickij: „Tragičeskaja ėrotika“: Obrazy imperatorskoj sem’i v gody Pervoj mirovoj vojny [„Tragische Erotik“: Bilder der kaiserlichen Familie in den Jahren des Ersten Weltkrieges], Novoe Literaturnoe Obozrenie Moskau 2010. 658 S. = Historica Rossica, ISBN: 978-5-86793-757-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Stadelmann_Kolonickij_Tragiceskaja_erotika.html (Datum des Seitenbesuchs)

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