Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Felix Philipp Ingold: Russische Wege. Geschichte – Kultur – Weltbild. München: Fink, 2007. 569 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-7705-4423-3.

Ein enigmatisches Opus hat der Schweizer Slawist, Historiker und Schriftsteller, seines Zeichens langjähriger Ordinarius für Kulturgeschichte Russlands in St. Gallen, mit seinem stattlichen Buch vorgelegt. Es bietet in drei Kapiteln und drei Exkursen einen „Parcours durch die russische Kulturgeschichte“ (S. 9) der letzten 1000 Jahre. Konzeptionelle Klammern sollen dabei Wege und Räume bilden, weshalb die drei Teile des Buches auch „Der russische Raum“, „Der russische Weg“ und „Wege nach Russland“ überschrieben sind. Hinzu gesellen sich drei Exkurse, die ebenfalls Räume und Wege betreffen: „Heim und Heimat“, „Raum und Weg in der russischen Naturdichtung“ sowie „Raum und Weg in der russischen Landschaftsmalerei“. Unterteilt werden die teils weit über 100 Seiten langen Großkapitel ausschließlich, einem Roman gleich, durch nummerierte Abschnitte, über deren Inhalt eine sechsseitige, stichpunkartige Übersicht informiert. Bereits diese Schilderung der Anlage des Buches macht es überdeutlich: Übersichtlichkeit und Systematik standen nicht im Vordergrund des Anliegens. Wie so oft bedingen sich auch hier Form und Inhalt gegenseitig – dem Verzicht auf strukturelle Präzision in der Konzeption des Buches entspricht ein frei rhapsodierender, kreativ assoziativer Erzählstil, der virtuose Sprünge zwischen Belesenheit und Gedankenblitzen vollführt, dem Leser aber kein „Programmheft“ an die Hand gibt, sondern es ihm und seiner Ausdauer überlässt, ob und wie weit er den verschlungenen Pfaden des Autors folgen will.

Das anspruchsvolle Anliegen des Buches erklärt der Autor selbst wie folgt: Es geht darum, „so etwas wie eine ‚Geographie der russische Seele‘ […] zu rekonstruieren, das heißt messbare Realien der russischen Wirklichkeit – also beispielsweise territoriale Dimensionen, städtebauliche Strukturen oder Länge, Verlauf und Anlage russischer Verkehrswege – vergleichend zusammenzuführen mit ‚Glaubenssätzen‘ und Selbstbekenntnissen“ (S. 8). Damit meint Ingold nichts weniger als die Bestimmung der „russischen Mentalität“ (ein „Referenzsystem […], anhand dessen die Lebenswelt wahrgenommen, aufgefasst, eingeschätzt, beurteilt wird, ein von der natürlichen Umwelt konditioniertes, langfristig tradiertes, gesellschaftlich akzeptiertes Wir- und Selbstverständnis“, S. 17) aus den räumlich-geographischen Begebenheiten heraus. Anders ausgedrückt: Die Russen denken und handeln auf eine bestimmte Weise, weil ihre im räumlichen Sinne einzigartige Lebensumgebung ein prägendes Geflecht an Ein- und Vorstellungen entstehen ließ. Über die Problematik der kollektiven Vereinnahmung ‚der‘ Russen in mentalitätsforschender Hinsicht ist sich Ingold durchaus bewusst, allerdings zielen seine Ausführungen nicht auf das Individuelle, sondern gerade auf das Verallgemeinerbare, Verbreitete, Gewohnte, Stereotype, dem sich in Russland, so Ingold, ohnehin kaum ein Individuum entziehen kann. Eine Bündelung, ein Ergebnis seiner Beobachtungen allerdings liefert der Verfasser nicht, es bleiben ungezählte, partiell in freier Gedankenform miteinander vernetzte Einzelbefunde bestehen, aus denen der Leser am Ende seine eigenen Schlüsse ziehen kann, sofern er nicht den Überblick verloren hat.

Diese Einzelaspekte sind zu zahlreich und zu heterogen, um auf sie hier näher einzugehen. So führt, um nur einen Eindruck zu geben, das große Kapitel I über den russischen Raum vom Gesamtterritorium durch den russischen Wald und die Steppe hin zum „russischen Einheits- und Ganzheitsdenken“, in das etwa der Begriff des mir und andere einheitlichkeitsstiftende Vorstellungen einzuordnen sind. Generell ist für Ingold die „nationale und mentale Homogenität“ viel charakteristischer für den russischen Raum als dessen durchaus anerkannte „kulturelle Vielfalt“ (S. 41), „Vielfalt in der Einheit“ sei eben die nationale Besonderheit (S. 45). Beobachtungen und Überlegungen zur „Seelengeographie“, also zur Wirkungskraft der endlos weiten Natur auf geistige Dispositionen schließen sich an, als nächstes werden feminin bestimmte Vorstellungen von der Heimat Russland thematisiert, bevor es über die russische Erde und deren Einfluss auf die Mentalität zu literarischen Raumbildern geht. All das sind nur herausgegriffene Stichworte, die Ingolds Prioritätensetzungen andeuten mögen, aber der Fülle an angesprochenen Themen und Motiven, an Bezügen und Querverbindungen, an Reflexionen und Assoziationen in keiner Weise gerecht werden. Zusammenfassen lässt sich das Buch ohnehin nicht, da Ingolds assoziativ-fließende Schreibweise nicht nur auf jeder Seite einen ganzen Kosmos zu eröffnen scheint, sondern sich auch der resümierenden Straffung entzieht.

Mitunter fördert der Autor auch eigenwillige Erkenntnisse zu Tage, so etwa, „dass die ‚russische‘ mit der ‚afrikanischen‘ Mentalität mehr Gemeinsamkeiten aufweist als mit irgendeiner der euroamerikanischen ‚Volksseelen‘“ (S. 121). Vielleicht ist es die kulturwissenschaftlich-schriftstellerische Seele des Autors, die ihn in den Charakterisierungen Afrikas des senegalesischen Dichters Senghor die „russische Weltanschauung mit ihrer ausgeprägt weiblichen, mütterlichen Erdung“ (S. 121) erkennen lässt; Historiker in ihrer unverbesserlichen Bodenständigkeit müssen hier sowohl in analytischer wie in begrifflicher Hinsicht dünnes Eis befürchten. Generell spielt Ingolds Opus magnum über die räumlich bewegten russischen Geisteshaltungen und Seelenzustände mehr kulturwissenschaftliche, philologische, auch philosophische Stärken und – last but indeed not least – literarische Faszinationskraft aus als geschichtswissenschaftliche Zielgerichtetheit. Das Buch bietet weder konsequente Strukturanalysen noch stringente Narrative, stattdessen liefert es Überlegungen und Anregungen, deren Spannungsverhältnis von durchgängig hohem Anspruch und partieller Trivialität durchaus lebendig wirkt. Es ist ein großer, belesener und scharfsinniger Kenner, der da seine unermessliche Schatztruhe öffnet und die Leser für lange Zeit darin nach Herzenslust ‚wühlen‘ und staunen lässt; ja, er überlässt es ihnen sogar, welche Reichtümer sie am Ende aus den reflektierenden Schätzen mit zu sich nehmen. Was dem Rezensenten besonders bemerkens- und aufgreifenswert erscheint, ist die Konsequenz aus Ingolds letztem großen Kapitel, in welchem er die spezifische Typik russischer Kultur aus der Nachahmung des ursprünglich Fremden erklärt. „Die Integration und Akkulturation des Fremden […] ist eine Stärke der russischen Kultur […]. Zu bedenken ist, dass nicht nur das Geben, als Einflussnahme oder Fremdeinwirkung, eine kulturelle Leistung ist, sondern auch die Fähigkeit des Nehmens, die Bereitschaft das Eigene dem Fremden zu öffnen und das Fremde den eigenen Möglichkeiten anzupassen, es den eigenen Bedürfnissen nutzbar zu machen, es in neuem kulturellen Kontext expandieren zu lassen“ (S. 461). Dass die Geschichte Russlands hierfür von den Rjurikiden über die Annahme des Christentums, die Tatarenzeit, den Kreml’-Ausbau und die Gründung von St. Petersburg bis hin zum Marxismus genügend konkretes Anschauungsmaterial bietet, wird von Ingold eindrucksvoll vorgeführt.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: Felix Philipp Ingold Russische Wege. Geschichte – Kultur – Weltbild. Wilhelm Fink Verlag München 2007. ISBN: 978-3-7705-4423-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stadelmann_Ingold_Russische_Wege.html (Datum des Seitenbesuchs)

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