Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Stadelmann

 

Gosudarstvennyj sovet Rossijskoj imperii 1906–1917. Ėnciklopedija [Der Staatsrat des Russländischen Reiches 1906–1917. Eine Enzyklopädie]. Moskva: Rosspėn, 2008. 343 S. ISBN: 978-5-8243-0968-7

Die Enzyklopädie ist ein weiterer wichtiger Baustein für die Errichtung eines modernen, verlässlichen Nachschlagewerkkomplexes zur „vaterländischen“, d. h. „russländischen“ Geschichte. Mit dem Staatsrat greift der Band eines der formal, in der Zeit seiner Existenz aber auch ‚gefühlt‘ wichtigsten Organe politischer Gestaltung im Russischen Kaiserreich auf. Zu Unrecht hat die Historiographie – im Westen ebenso wie in der Sowjetunion – aufgrund einer schnell diagnostizierten verfassungsrechtlichen Kompetenzlosigkeit sowie einer vermeintlichen politisch-mentalen Beschränktheit seiner Mitglieder den Russischen Staatsrat in ihren Betrachtungen und Analysen kaum berücksichtigt. Dabei war der Staatsrat weit mehr als ein Auffangbecken für alternde und aus dem Minister- oder Gouverneursamt gedrängte adelige Staatsmänner: In der politischen Kultur der Autokratie konnte er, spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als eine entscheidende Institution im Gesetzgebungsprozess gelten, deren diskursive Disposition auch für den selbstredend nicht weisungsgebundenen Herrscher von beachtlicher Relevanz war.

Aufgrund dieser Ausgangslage ist es durchaus zu bedauern, dass die vorliegende Enzyklopädie ‚nur‘ die Zeit von 1906 bis 1917, also jene wenigen Jahre erfasst, in denen der Staatsrat dank seiner Funktion als Oberhaus des russischen Parlaments, welches die Revolution von 1905 dem Autokraten abgetrotzt hatte, einen etwas größeren Bekanntheitsgrad im Geschichtsbild erreicht hat. Doch trotz der zeitlichen Einschränkung ist dieses Nachschlagewerk von hohem Wert: Nach einer – sehr kurzen – Einführung in die Geschichte des Staatsrats präsentiert das Werk knapp, aber genau in alphabetisch angeordneten Artikeln die Dienstbiographien seiner Mitglieder – der vom Kaiser ernannten wie der von den gesellschaftlichen Organisationen gewählten – im besagten Zeitraum, meistens mit Porträtfoto, mit Hinweisen auf eigene Schriften (sofern vorhanden) der betreffenden Personen sowie auf Sekundärliteratur bzw. Archivmaterial zu ihnen. Jene Kurzbiographien machen die Mehrzahl der Einträge aus, doch in der Enzyklopädie wird auch einzelnen systematischen Fragen mit eigenen Stichworten nachgegangen, beispielsweise Gruppen, Fraktionen, Ämtern oder Abteilungen im Staatsrat. Auch Einträge wie „Diskussionen“ „Gesetzgebungsprozess“, „Innenpolitik“, „Wahlen“ fanden Eingang in die Enzyklopädie und geben knappe, doch übersichtliche Einblicke in die Grundlagen der Arbeit des Staatsrates.

Insgesamt ist die Enzyklopädie sehr sauber zusammengestellt, die Einträge sind von lexikalischer Knappheit und Prägnanz, dabei auf der Grundlage fundierter, oft auch archivalischer Recherche geschrieben. Das entstandene Werk ist sehr zu begrüßen, da es schwer zugängliche Informationen über Russlands Staatsmänner der zweiten und dritten Reihe zusammenträgt und in einen Zusammenhang mit ihrer Betätigung in Russlands Oberhaus bringt. Als Arbeitsgrundlage für nähere Studien zu Charakter und Funktionsweise von Politik in einer der Schlüsselphasen des Zarenreiches vermag es wertvolle Dienste zu leisten. Aber auch unabhängig von weiteren Forschungsvorhaben sollte es als zuverlässige Informationsquelle in keiner wissenschaftlichen Bibliothek fehlen, zumal es trotz seiner enzyklopädischen Trockenheit unsere ‚Schublade‘ vom politisch agonierenden Imperium nach 1905 mit konkretem Leben füllt.

Matthias Stadelmann, Erlangen-Nürnberg

Zitierweise: Matthias Stadelmann über: JGO_Rezensionen, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Stadelmann_Gosudarstvennyj_Sovet.html (Datum des Seitenbesuchs)

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