Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Wiederaufbau europäischer Städte – Rebuilding European Cities. Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945 – Reconstructions, Modernity and the Local Politics of Identity Construction since 1945. Hrsg. von Georg Wagner-Kyora. Stuttgart: Steiner, 2014. 485 S., 103 Abb. = Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 15. ISBN: 978-3-515-10623-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer internationalen, Ende September 2009 von der Leibniz-Universität Hannover und der Forschungsstelle für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg veranstalteten Historikertagung, die wiederum auf dem Konzept eines 2004 initiierten DFG-Forschungsprojektes zum Wiederaufbau bundesdeutscher Städte basierte. Im Fokus der insgesamt 19 Beiträge stehen dem Herausgeber zufolge „weniger die Baugeschichte als die Identifikationsgeschichte der Städte zur Diskussion“ (S. 21). So wird vor allem großer Wert auf die Identitätspolitik, die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des Wiederaufbaus in den Medien wie auch die Moderne-Debatte im Rahmen der Nachkriegsstadtplanungen für die kriegszerstörten Städte gelegt.

Der erste thematische Block vereinigt sieben Aufsätze zur Identitätspolitik im Wiederaufbau. Robert J. Morris geht in seinem Essay Notes on the Rebuilding of Europe since 1945. Remembering and Forgetting the British Experience auf die erinnerungsgeschichtliche Aufarbeitung des Wiederaufbaus Europas nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer britischen Perspektive ein. Dabei unterstreicht Morris die Diskrepanz, die aus dem Willen, Neues zu erschaffen und gleichzeitig Altes zu erhalten bzw. zu rekonstruieren, erwuchs – ein nicht nur britisches, sondern vielmehr europäisches Phänomen: „Europe since 1945 has seen two periods of reconstruction. The first had a great faith in the modern, in science, in experts, in the future. The second responded to fundamental changes in experience and sought an identity with the past. This was not just a matter of taste but reflected a deep need for identity, certainty and continuity in a fractured and rapidly changing world. As identities and structures were challenged in the so-called post modern, the remaking of ‘old’ buildings offered a story. The decades of forgetting, of the confidence of the modern were followed by decades of remembering, often fractured and always selective.“ (S. 79)

Die folgenden zwei Aufsätze sind strikt komparatistischer Natur. Während Corinne Bouillot mit der Normandie und Niedersachsen zwei europäische Großräume als „Wiederaufbau-Regionen“ gegenüberstellt, skizziert Georg Wagner-Kyora in einem diachronen Vergleich die Unterschiede und Parallelen im Wiederaufbau bundesdeutscher Städte zwischen 1950 und 1990. Dass der Wiederaufbau historischer Gebäude mit großem kulturellen Symbolwert bzw. die Errichtung neuer Gebäude anstelle älterer Bauten willkommene Instrumente der Politik waren und bis heute sind, zeigen die Beiträge von Malte Thießen und Philipp Springer. Ersterer zeichnet die Restaurierung der Lübecker Marienkirche als eines der Symbole des „deutschen Ostens“ nach, letzterer den ideologisch begründeten Abriss des Schwedter Barockschlosses im Jahre 1962 und die damit einhergehende Zukunftseuphorie der sozialistischen Industriestadt. In Warschau mussten die Städteplaner nach dem Zweiten Weltkrieg beiden Forderungen nachkommen, wie Martin Kohlrausch zu berichten weiß. Während der historische Stadtkern samt Königlichem Schloss schon alleine aus erinnerungskulturellen Gründen rekonstruiert wurde, eiferten die Architekten in den Warschauer Vorstädten der sozialistischen Arbeiterstadt mit ihren Plattenbauten und funktional ausgerichteten Gebäuden nach – ein Spagat, der nur bedingt gelang: „Angesichts des Zielkonflikts bei extrem begrenzten Ressourcen, zwischen der Entwicklung Warschaus zu einer modernen Metropole und den Anforderungen an den Wohnungsbau abwägen zu müssen sowie zwischen den divergierenden politischen Vorgaben und den funktionellen Anforderungen einer sozialistischen Metropole zu entscheiden, hat sich weder Lewis Mumfords Vision einer ‚new form for a new age‘ erfüllt, noch der Plan, Warschau als eine am Reißbrett entworfene sozialistische Musterstadt aufzubauen.“ (S. 198–199) Anders als in der polnischen Hauptstadt waren im nachkriegszeitlichen Rotterdam die Städteplaner darauf aus, die während des deutschen Bombardements von 1940 fast vollständig niedergebrannte Altstadt nicht wiederaufzubauen. Stattdessen, so Paul van de Laar in seinem Artikel, sollte das Zentrum Rotterdams eine Musterstadt des architektonischen Modernismus werden.

Der zweite Themenblock widmet sich den Geschichtspolitiken, den Medien und der unterschiedlichen erinnerungskulturellen Aufarbeitung der Wiederaufbauzeit. David Crew zeichnet die visuelle Aufarbeitung des westdeutschen Wiederaufbaus nach 1945 im Spannungsverhältnis zwischen Trauer, Verleugnung und einem zukunftsorientierten Optimismus nach. Sandra Schürmann zeigt am Beispiel Hamburgs und der von der Stadt in Auftrag gegebenen photographischen Dokumentierung des Wiederaufbaus nach 1945, „dass die Aktualisierung der visuellen Repräsentation ein wichtiger Aspekt der Wiederaufbauleistung nach den Zerstörungen europäischer Städte im Zweiten Weltkrieg war“. So gehörte zum Wiederaufbau „neben der physischen Wiederherstellung ebenso die Kommunikation in Form von Gedenkfeiern, Reden, Texten und Bildern“ (S. 250). Ein ähnliches „Reconstructing the Self“ kann auch Andrew Stuart Bergerson für den Wiederaufbau Alt-Hildesheims bezeugen.

Im ausgedehnten dritten Themenblock finden sich insgesamt neun Aufsätze, die sich explizit der Rekonstruktion der Städte in der Moderne widmen. Im Großteil der hier versammelten Beiträge wird der Wiederaufbau deutscher Städte und ihrer Wahrzeichen wie etwa der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Celina Kress), Pforzheims (Christian Groh), des Hamburger Stadtteils Neu-Altona (Sylvia Necker) oder des Ost-Berliner Nikolaiviertels (Florian Urban) thematisiert. Aufsätze zu Rotterdam (Christoph Strupp), Tallinn (Mart Kalm), Brescia (Gian Paolo Treccani) und Mailand (Serena Pesenti) runden die Darstellung in diesem Block ab. Geographisch aus der Reihe fallend ist Sebastian Haumanns Essay zum US-amerikanischen Philadelphia. Es gewährt jedoch sehr interessante Einblicke zu Rekonstruktions- und Modernisierungsprojekten von historischen Stadtkernen in den Vereinigten Staaten, was – überraschenderweise, handelte es sich bei Philadelphia doch nicht um eine kriegszerstörte Stadt – wiederum zahlreiche Parallelen zu den anderen im Sammelband vorgestellten europäischen Städten aufzeigt.

Das vorliegende Werk liefert spannende Einblicke in die Zeit des Wiederaufbaus europäischer Städte nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Aufarbeitung durch Politik, Geschichtswissenschaft und Medien. Gelungen ist der interdisziplinäre Ansatz, stammen doch die Beiträge nicht nur von Wirtschafts- und Zeithistorikern, sondern auch von Historikern anderer Fachbereiche, von Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern oder Stadtgeographen. Ein geschlossenes Ganzes darf somit nicht erwartet werden, die interdisziplinären Querverweise verdeutlichen jedoch auf eine eindrucksvolle Weise die Parallelen und zum Teil gar (auf den ersten Blick zumindest) nicht immer offensichtlichen Interdependenzen, aber auch Unterschiede im Wiederaufbau europäischer Städte der Nachkriegszeit.

Paul Srodecki, Kiel

Zitierweise: Paul Srodecki über: Wiederaufbau europäischer Städte – Rebuilding European Cities. Rekonstruktionen, die Moderne und die lokale Identitätspolitik seit 1945 – Reconstructions, Modernity and the Local Politics of Identity Construction since 1945. Hrsg. von Georg Wagner-Kyora. Stuttgart: Steiner, 2014. 485 S., 103 Abb. = Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 15. ISBN: 978-3-515-10623-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Wagner-Kyora_Wiederaufbau_europaeischer_Staedte.html (Datum des Seitenbesuchs)

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