Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Matthias Stickler (Hrsg): Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration. Stuttgart: Steiner, 2014. 204 S. = Historische Mitteilungen 5– Beihefte, 86. ISBN: 978-3-515-10749-5.

Inhaltsverzeichnis:

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Das Thema der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostmittel- und Osteuropa im Zuge des Zweiten Weltkriegs erlebte vor gut zehn Jahren nicht zuletzt dank der mit großem öffentlichen Interesse verfolgten Ausstellungen Flucht, Vertreibung, Integration des Bonner Hauses der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bzw. Erzwungene Wege der sich in Berlin befindenden Stiftung Zentrum der Vertriebenen eine gewisse Renaissance. Hierzu beigetragen haben mag auch der mit einigem Pathos aufgeladene, 2007 erschienene ARD-Zweiteiler Die Flucht. Die Entstehung des vorliegenden Bandes ist vor dem Hintergrund dieses wiedererweckten Interesses an der Vertriebenenthematik nach 2005 zu sehen, basiert er doch – abgesehen von drei nachträglich aufgenommenen Beiträgen – im Wesentlichen auf den Vorträgen einer im Jahre 2008 abgehaltenen Jahrestagung der Ranke-Gesellschaft in Würzburg. Ziel der Tagung und des aus ihr hervorgegangenen Sammelwerkes war/ist es, „das gestiegene öffentliche Interesse am Thema ‚Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration‘ aufzugreifen und durch Vorträge, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung repräsentieren, einen Beitrag zur Versachlichung einer bisweilen auch emotional geführten Debatte und damit auch im weitesten Sinne zur politischen Bildung zu leisten“. (S. 11)

Nach einer recht ausführlichen Einführung durch Matthias Stickler skizziert Eva Dutz in ihrem Beitrag das Wirken des Sozialdemokraten Wenzel Jaksch. Der Sudetendeutsche Jaksch, der 1964 bis 1966 Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV) war, hatte in der Nachkriegszeit ein durchaus gespaltenes Verhältnis zur SPD, der er eine „mangelnde Berücksichtigung der heimatvertriebenen Politiker innerhalb der Partei“ (S. 32) vorwarf. Für weiteres Konfliktpotential sorgte die Haltung der Partei in den Fragen der Ostpolitik. Einer zwischenzeitlichen Annäherung zwischen SPD und BdV in den Jahren 1959 bis 1961 folgte eine deutliche Verschlechterung des Verhältnisses nach 1965 als unter der Mehrheit der Sozialdemokraten Forderungen nach einer flexiblen Ostpolitik immer lauter wurden, „die im Gegensatz zu der bisherigen offiziellen Haltung der SPD stand und die den Zielen des BdV und seiner Mitgliederverbände widersprach“. (S. 33)

Gilad Margalit widmet sich mit Hans-Christoph Seebohm einem weiteren Vertriebenenpolitiker, der allerdings anders als Wenzel Jaksch zum rechten Parteienspektrum gehörte. Das Beispiel dieses umstrittenen CDU-Politikers, der u. a. die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten mit dem Holocaust verglich, verdeutliche sehr gut die Ambivalenz in Konrad Adenauers Außen- und zugleich Vertriebenenpolitik, die zwischen gemäßigten und revisionistischen Positionen schwankte. Noch radikalere Ansichten als Seebohm vertrat ein weiterer Vertriebenenpolitiker und Christdemokrat – der bisweilen auch als „Reaktionär“ oder gar „Revanchist“ bezeichnete langjährige Vorsitzende des BdV Herbert Czaja. Auf Letzteren trifft Matthias Stickler zufolge „in besonderer Weise zu, was über die organisierten Vertriebenen nicht ganz zu Unrecht insgesamt gesagt wurde, dass er alles Politische in den Spannungsbogen von Heimatverlust und Wiedergewinnung der Heimat einordnete“. (S. 62)

Einem bis heute schwierigen Thema der polnischen Geschichte widmet sich Małgo­rza­ta Świder, die die Entgermanisierung Oberschlesiens bzw. im Speziellen des Oppelner Schlesien zwischen 1945 und 1950 nachzeichnet. Die auch als Repolonisierung bezeichneten Maßnahmen gegen die überwiegend deutschsprachige Bevölkerung habe kaum Erfolg gehabt, fehlte doch hierfür im Großen und Ganzen die gesellschaftliche Unterstützung. Die oberschlesischen Autochthonen hätten „die deutsche Kultur als normal und für ihr Selbstverständnis als nicht störend“ (S. 85) empfunden, während das Polnische nur zu oft mit dem größtenteils auf tiefe Ablehnung stoßenden kommunistischen System assoziiert wurde.

Über die Schwierigkeiten bei der Aufnahme der über 14 Millionen Heimatvertriebenen im Nachkriegsdeutschland weiß Andreas Kossert zu berichten. Die Integration der aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien und dem Sudetenland in den Westen geflohenen Deutschen sei gewissermaßen „eine[r] erzwungenen Assimilation“ gleichgekommen, sei sie doch „um den hohen Preis der kulturellen Selbstaufgabe“ (S. 98) erfolgt. Um eben dieser „Selbstaufgabe“ entgegenzuwirken organisierten sich die Heimatvertriebenen in zahlreichen Landsmannschaften, Vertriebenen- und Heimatverbänden. Eine der größten Vereinigungen bildete bzw. bildet hier die Landsmannschaft Schlesien, die seit ihrer Gründung 1950 für zahlreiche erinnerungspolitische Kontroversen zwischen Deutschland und Polen, aber auch zwischen West- und Ostdeutschland sorgte. Christian Lotz stellt in seinem Beitrag den Einfluss der Landsmannschaft Schlesien auf die Auseinandersetzungen um die Erinnerungen an Flucht und Vertreibung in der Nachkriegszeit vor.

Wie heikel und emotional aufgeladen die Vertriebenenproblematik in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit war, zeigt Iris Thöres anhand des in den 1950er Jahren innerhalb der Reihe Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa entstandenen Buches Das Schicksal der Deutschen in Ungarn. Matthias Finster verweist in seinem Beitrag auf das Spannungsfeld zwischen Lobbyismus, Instrumentalisierung durch die Politik und versuchter Einflussnahme auf die Geschichtspolitik, in welchem sich der BdV seit seiner Gründung bewegte bzw. noch bewegt.

Während die vorhergehenden Beiträge mehr oder weniger die Vertreibung der Deutschen aus Ostmittel- und Osteuropa thematisieren, versucht Jan M. Piskorski dem Phänomen der Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs durch ein gesamteuropäisches Prisma gerecht zu werden. Interessant erscheint dabei die Gegenüberstellung der Vertreibungen von Deutschen und Polen im Zuge der Potsdamer Beschlüsse, die mehr Parallelen als Unterschiede aufweisen. Den Band schließt sodann der 2010 verstorbene Historiker Michael Salewski mit einem autobiographischen Beitrag zu seiner Flucht und Vertreibung aus Ostpreußen ab.

Anders als vom Titel suggeriert, stehen nicht so sehr Flucht, Vertreibung und Integration der Heimatvertriebenen im Fokus des Sammelbandes. Abgesehen von drei (Kossert, Piskorski, Salewski) der insgesamt elf Beiträge konzentrieren sich die Autoren zuvorderst auf die erinnerungskulturelle bzw. erinnerungspolitische Verarbeitung der (in diesem Buch überwiegend deutschen) Vertriebenenschicksale im Schatten des Zweiten Weltkriegs. Neue Erkenntnisse darf sich der Leser durch die Aufsatzsammlung allerdings nicht versprechen. Vieles, was in dem vorliegenden Band thematisiert wird, findet sich bereits in einer ausführlicheren Form in anderen Abhandlungen der hier mitwirkenden Autoren. (Vgl. Małgorzata Świder: Die sogenannte Entgermanisierung im Oppelner Schlesien in den Jahren 1945–1950. Lauf 2002; Matthias Stickler: „Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch“. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949–1972. Düsseldorf 2004; Christian Lotz: Die Deutung des Verlusts. Erinnerungspolitische Kontroversen im geteilten Deutschland um Flucht, Vertreibung und die Ostgebiete (1948–1972). Köln 2007; Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Berlin 2008; Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 19431950. Stuttgart 2014) Dennoch bietet das Buch ein kurzweiliges Lesevergnügen: Die Beiträge sind durchgehend stringent untergliedert, und auch komplexere Sachverhalte werden leicht zugänglich gemacht, was die Lesbarkeit und das Verständnis ungemein fördert. Im Großen und Ganzen eignet sich der Sammelband also allem voran für Laien und Studenten, die einen guten und schnellen Einstieg in die Vertriebenenthematik und die dazugehörigen erinnerungskulturellen Narrative der Nachkriegszeit suchen.

Paul Srodecki, Kiel

Zitierweise: Paul Srodecki über: Matthias Stickler (Hrsg): Jenseits von Aufrechnung und Verdrängung. Neue Forschungen zu Flucht, Vertreibung und Vertriebenenintegration. Stuttgart: Steiner, 2014. 204 S. = Historische Mitteilungen 5– Beihefte, 86. ISBN: 978-3-515-10749-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Stickler_Flucht_Vertreibung_Vertriebenenintegration.html (Datum des Seitenbesuchs)

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