Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

„Mein Haus an der Oder“. Erinnerungen polnischer Neusiedler in Westpolen nach 1945. Hrsg. von Beata Halicka. Übers. von Maria Albers unter Mitwirkung von Aleksandra Łuczak. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2014. 344 S., 2 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-506-77694-5.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Jahre der unmittelbaren Nachkriegszeit werden in der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur überwiegend mit Flucht und Vertreibung der Deutschen, aber auch mit Wiederaufbau und Neuanfang verbunden. Auch in Polen wurden Millionen Menschen nach 1945 (aber auch bereits vorher im Zuge der nationalsozialistischen Germanisierungspläne des Ostens und der damit zusammenhängenden Umsiedlungsprogramme) Opfer von Flucht und Vertreibung. Besonders der frühere polnische Osten weist hierbei mannigfaltige Parallelen zu den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen auf. Die sogennanten „Kresy“, d. h. die seit dem Ausgang des Mittelalters polnischem Einfluss sowie (zumindest bis zum Ende der Ersten Rzeczpospolita) einer beständigen polnischen Kolonisierung ausgesetzten ruthenisch-litauischen Gebiete, sollten endgültig entpolonisiert werden. Als Äquivalent hierzu sollte der als „wiedergewonne Gebiete“ dargestellte neue polnische Westen entgermanisiert werden. Den Anfang machte war die Deportierung der Ostpolen in den Westen.

Der vorliegende Band sammelt Berichte von Zeitzeugen, die infolge des Zweiten Weltkriegs ihre Heimat in Ruthenien, Wolhynien, Polesien oder an der mittleren Memel aufgeben mussten und in den ehemals von Deutschen bewohnten Städten und Dörfern an der Oder eine neue Heimat fanden. Halicka fasst die Kriterien für die Auswahl der im Band publizierten Texte wie folgt zusammen: Sie sollen „ein möglichst umfassendes Bild der damaligen Zeit geben und die die wichtigsten Aspekte der Besiedlung und Bewirtschaftung des Oderraums zeigen“ (S. 17). Zudem sollen sich „die Texte durch eine klare Struktur und leicht verständliche Schreibweise auszeichnen. […] Vermieden wurden Beiträge, die eindeutig den Ton der kommunistischen Propaganda nachahmten und gezielt [wurde] nach solchen gesucht, die sich kritisch gegenüber den ersten Nachkriegsjahren äußerten. […] Nicht berücksichtigt werden konnten interessante Erinnerungen von großem Umfang (oft über 100 Seiten Schreibmaschinenschrift).“ (S. 17–18) Faktisch ist „die Textsammlung aus dem Wettbewerb 1956/57 […] in Anlehnung an die biographische Methode von Florian Znaniecki entstanden“. (S. 15) Letzterer „vertrat die Meinung, dass man die Gesellschaft nicht nur an Massenphänomenen untersuchen soll, sondern auch durch Heranziehung der Schicksale einzelner Personen.“ (S. 15)

Zusammengefasst geben die im Band abgedruckten Berichte einen eindrucksvollen Einblick in den Alltag der Nachkriegszeit im Oder-Raum aus der Perspektive beispielsweise eines Lehrers, eines Bürgermeisters, einer Verwaltungsbeamtin oder eines Bauern. In ihren Erzählungen spiegeln sich die nur zu oft traumatischen Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit wie auch der gewaltsamen Migration wider. Zugleich zeichnen sie ein gutes Bild von den Schwierigkeiten der in ehemals deutschen Gebieten angekommenen Ostpolen nach: So stellte für diese Neubürger neben der Verarbeitung des Verlustes der eigenen Heimat allem voran die Konfrontation mit dem deutschen Erbe sowie die schrittweise Aneignung des fremden Kulturraums eine komplexe und langwierige Aufgabe dar.

Unabhängig von ihrer Bedeutung als wichtige zeitgenössische Dokumente innerhalb der Oral History erschließt sich der zusätzliche Mehrwert der etwa ein Jahrzehnt nach dem Kriegsende aufgeschriebenen Berichte durch die Tatsache, dass sie allesamt ob ihres durchwegs kritischen Charakters vom kommunistischen Zensurapparat nicht zur Veröffentlichung freigegeben wurden. Der offizielle Diskurs sah in den neuen polnischen Westgebieten ein Territorium, das nach langer Zeit deutscher „Okkupation“ wieder zur polnischen „Mutter“ („powrót do macierzy“) zurückgekehrt sei. Darstellungen, die diese verklärende Interpretation in Frage stellten, wurden von der Warschauer Regierung nicht geduldet und mit allen Mitteln bekämpft. Jegliche deutschen Elemente in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien wie auch die Erinnerung an diese sollten (analog zur sowjetischen Vorgehensweise in den „Kresy“) mittels einer rigorosen Polonisierungpolitik ausgetilgt werden.

Sehr interessant erscheint das zwiespältige Verhältnis der Neusiedler zum alten und neuen politischen System in Polen. Das wird beispielsweise an dem Bericht des Jan Krukowski deutlich, der einerseits die politischen Verhältnisse der Zweiten Rzeczpospolita – vermutlich unter dem Einfluss der aktuellen kommunistischen Propaganda – als ungerecht, gegen das eigene Volk gerichtet und nicht zuletzt wegen der Flucht in den Westen 1939 als verräterisch bezeichnet, andererseits aber die neuen Machthaber in der Volksrepublik Polen – ungeachtet der eigenen Sympathien mit sozialistischen Ideen – als Satelliten Moskaus ablehnt: So sei die anfangs von breiten Bevölkerungsschichten erträumte „Gerechtigkeit“ in der Zweiten Rzeczpospolita nicht denen zuteil geworden, die 1920–1921 im polnisch-sowjetischen Krieg für einen unabhängigen polnischen Staat gekämpft hätten, „sondern nur denen, die bereits ein Leben im Wohlstand führten“ (S. 91). Die neue politische Situation nach 1945 fiel für Krukowski jedoch auch mehr als ernüchternd aus: „Weder vor dem Krieg, noch danach war ich Mitglied einer Partei. Ich dachte zwar darüber nach, bald der [kommunistischen] Partei beizutreten“. Allerdings wollte Krukowski „Polen dienen und ihm treu bleiben, aber ich wollte nicht, dass es zur siebzehnten Sowjetrepublik wurde“ (S. 97). Diese Diskrepanz ist Halicka zufolge nicht verwunderlich, hätten doch „die Neusiedler einen großen Teil der Propaganda verinnerlicht und sie zur Legitimation ihrer Anwesenheit in den neu angeschlossenen Gebieten gebraucht“ (S. 17–18).

Doch gerade an dem letzten Beispiel wird exemplarisch deutlich, dass die im Band gesammelten Zeitzeugenberichte mit größter Vorsicht zu behandeln sind und ebenso kritisch wie etwa Autobiografien betrachtet werden müssen, geben sie doch stets nur ein sehr subjektives und zudem – vor dem Hintergrund der niedrigen Anzahl von neun Interviewten – selektives Abbild der Geschehnisse wieder.

Paul Srodecki, Kiel

Zitierweise: Paul Srodecki über: „Mein Haus an der Oder“. Erinnerungen polnischer Neusiedler in Westpolen nach 1945. Hrsg. von Beata Halicka. Übers. von Maria Albers unter Mitwirkung von Aleksandra Łuczak. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2014. 344 S., 2 Ktn., Abb. ISBN: 978-3-506-77694-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Halicka_Mein_Haus_an_der_Oder.html (Datum des Seitenbesuchs)

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