Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Marta Grzechnik: Regional Histories and Historical Regions. The Concept of the Baltic Sea Region in Polish and Swedisch Historiographies. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 185 S., Abb. = Geschichte-Erinnerung-Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 3. ISBN: 978-3-631-63172-0.

Im Mittelpunkt der Studie steht die Ostsee als historischer Raum. Die Verfasserin konzentriert sich hierbei auf einen zweifachen Vergleich historiographischer Ostseekonzepte – einen räumlichen und einen zeitlichen. Kontrastiert werden hierbei die verschiedenen polnischen und schwedischen Ostseewahrnehmungen durch die Geschichtswissenschaft. Als Untersuchungszeiträume hat Grzechnik die Zwischenkriegszeit 1918–1939 und die Zeit nach 1989, d. h. die Periode nach dem Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen Systemumbrüche im östlichen Mittel- bzw. Osteuropa, gewählt.

Die Verfasserin sieht die Abhandlung in der Tradition der von Reinhart Koselleck entwickelten begriffs- und sozialgeschichtlichen Ansätze, wonach die Analyse von Konzepten, ihrer Bedeutung und Veränderung Aufschluss über historische Prozesse geben kann. Die vorliegende Arbeit sei somit als „a study of concepts“ bzw. als „a history of concepts in the Baltic sea region“ (S. 9) zu verstehen. Um eine möglichst vollständige Antwort auf die Fragestellung zu geben, untersucht Grzechnik die polnischen und schwedischen Konzepte zur Ostseeregion in den jeweiligen Untersuchungszeiträumen auf ihre Synchronie bzw. Diachronie hin. Das Ziel ihrer Arbeit fasst die Verfasserin demnach wie folgt zusammen: „The study must include both the ways in which the concept of the Baltic Sea region and related concepts […] have developed over time, and how they have related to each other and to contemporary events and ideas. (S. 11)

Nach dieser knapp gehaltenen Fragestellung und einem etwas genaueren Überblick zum Forschungsstand in der Einleitung versucht Grzechnik in den folgenden fünf Kapiteln, für die aufgeworfene Problemstellung eine Antworten zu finden. Im ersten Kapitel The Struggle for Pomerania: Poland in the interwar period skizziert die Verfasserin das Streben der Zweiten Polnischen Republik (poln. II. Rzeczpospolita) nach einem festen Zugang zum Meer und nach der Behauptung des ihr zugesprochenen „Korridors“ samt der knapp 74 km langen Ostseeküste rund um Gdingen, das in den Jahren 1918–1939 von einem unbedeutenden Küstenort zur wichtigsten polnischen Hafenstadt der Zwischenkriegsjahre ausgebaut wurde. Grzechnik geht hierbei auf die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Ostseekonzepte polnischer Intellektueller ein, wie etwa das „Intermarium/Międzymorze-Konzept, das eine Kontinuität der polnischen „Ostsee-Zugehörigkeit“ bis in die Jagiellonenzeit suggerieren sollte und insbesondere vom polnischen Außenminister Józef Beck bemüht wurde. Die polnischen Ostseekonzepte, die die Ambitionen des wieder unabhängigen Staates nach Errichtung und Etablierung einer Seemacht unterstreichen sollten, standen dabei im krassen Gegensatz zu zeitgleich entwickelten und von einem – dem Geiste der Zeit geschuldeten – starken Nationalismus geprägten deutschen Konzepten zur Ostseeregion, wie etwa dem eines „Germanischen Meeres“ von Erich Maschke. Institute wie das Instytut Bałtycki („Ostsee-Institut) oder der Związek Obrony Kresów Zachodnich („Vereinigung zur Verteidigung der westlichen Grenzgebiete) wie auch einschlägige Publikationen von Geschichtswissenschaftlern und Politologen dienten der Legitimierung der in Versailles gezogenen West- und Nordgrenzen der Zweiten Polnischen Republik und galten besonders nach der Machtergreifung Hitlers als Antwort auf den als größte Bedrohung für den jungen polnischen Staat angesehenen deutschen Revanchismus.

Im zweiten Kapitel geht Grzechnik auf die schwedischen Ostseekonzepte der Zwischenkriegszeit ein. Ohne ein aktiver Akteur des Ersten Weltkriegs gewesen zu sein, hatte der Ausgang des Krieges wie auch die völlige Neuordnung der politischen Kräfte- und territorialen Verhältnisse im nordöstlichen und östlichen Mitteleuropa große Auswirkung auf Schweden. Die neu entstandenen Staaten südlich und östlich des skandinavischen Staates wurden von den schwedischen Intellektuellen als Pufferstaaten gegenüber dem geschwächten Russland angesehen. Grzechnik zeigt, dass die Neuzeichnung der politischen Landkarte Europas auch großen Einfluss auf die schwedische Geschichtswissenschaft hatte. Hier sei vor allem die Uppsala-Schule hervorzuheben, die im Geiste der Historiker Erik Gustaf Geijer (1783–1847) und Harald Hjärne (1848–1922) das historiographische Konzept des dominum Maris Baltici mit zahlreichen Publikationen bediente. In Erinnerung an die Stormaktstiden, die schwedische Regionalmachtstellung unter den Wasa-Königen während des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, bemühten die Historiographen der Zwischenkriegszeit oft das Bild des mare nostrum. Finnland wie auch die baltischen Staaten erschienen hierbei als wichtige Vorposten gegen eine als genuin nicht-europäisch verstandene Sowjetunion; die Ostsee galt ebenfalls als eine wichtige Trennlinie gegenüber der kommunistischen Bedrohung. Hierzu zählte auch das in der schwedischen Historiographie der Zwischenkriegsjahre so populäre Konzept des Nordens, d.h. einer Union aller protestantischen Länder des Nordens zur Verteidigung und Durchsetzung der gemeinsamen Interessen.

In den Kapiteln 3 und 4 kontrastiert Grzechnik die polnischen und schwedischen Ostseekonzepte nach 1989. Die Verfasserin unterstreicht hierbei vor allem den Wechsel innerhalb der polnischen und schwedischen Ostseebilder, weg von einer in der Zwischenkriegszeit vom starken Nationalismus geprägten länderbezogenen hin zu einer die Europäizität und das Zwischenstaatliche unterstreichenden Perspektive. In Polen ist dies zuvorderst das bereits in den späten siebziger Jahren von Czesław Wojewódka entwickelte und insbesondere nach 1989 immens ausgearbeitete Konzept der Europa Bałtycka („Ostsee-Europa“), das mit seinen ausgeprägten integrativen Merkmalen einer der ideellen Legitimationswerkzeuge der polnischen Eliten bei der Westintegration der Dritten Polnischen Republik in den späten neunziger Jahren und zu Beginn des 21. Jahrhunderts war (NATO- und EU-Beitritt). Die politischen Umbrüche in Osteuropa nach 1989 hatten auch auf das schwedische Geschichtsbild großen Einfluss, und wie im Falle Polens wurden nun verstärkt die verbindenden Merkmale der Ostsee als supranationaler Raum von wirtschaftlichen und politischen Interaktionen in der Geschichte hervorgehoben.

Grzechnik ist es mit ihrer relativ kurzen Abhandlung durchaus gelungen, einen konzisen Ein- wie Überblick zu den verschiedenen historiographischen Konzepten der polnischen und schwedischen Geschichtsforschungen zur Ostseeregion zu geben. Das Buch erscheint allerdings mehr als ein etwas längerer Aufsatz; die eingangs aufgeworfenen Fragen werden nur sehr knapp beantwortet. Auch wenn es sich also hier um eine Pionierarbeit handelt, so dient sie doch nur als Einstieg bzw. eine grobe Skizze und Animation zu weiteren komparatistischen Studien zur Ostseeregion als historischem Raum.

Paul Srodecki, Gießen

Zitierweise: Paul Srodecki über: Marta Grzechnik: Regional Histories and Historical Regions. The Concept of the Baltic Sea Region in Polish and Swedisch Historiographies. Frankfurt a.M., Berlin, Bern [usw.]: Lang, 2012. 185 S., Abb. = Geschichte-Erinnerung-Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 3. ISBN: 978-3-631-63172-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Grzechnik_Regional_Histories.html (Datum des Seitenbesuchs)

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