Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Agnieszka Gąsior / Agnieszka Halemba / Stefan Troebst (Hg.): Gebrochene Kontinuitäten. Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 352 S., 63 Abb.. = Visuelle Geschichtskultur, 13. ISBN: 978-3-412-22256-7.

Inhaltsverzeichnis:

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Der vorliegende Sammelband widmet sich „solche[n] Erinnerungsorte[n] Ostmitteleuropas, die einerseits national gedeutet werden, andererseits transnational geprägt sind.“ (Um­schlagtext) Die Beiträge sind allesamt das Ergebnis einer 2006–2011 von Stefan Troebst geleiteten und von Agnieszka Gąsior koordinierten interdisziplinären Projektegruppe des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig, im derer Rahmen 2007 u. a. zwei internationale Konferenzen in Bautzen und Berlin wie auch ein thematisches Panel in New Orleans veranstaltet wurden. Nach einem Vorwort geben Patrice M. Dabrowski und Stefan Troebst in einem etwas ausgedehnteren Beitrag (S. 17–72), bei dem es sich nota bene um eine 1:1-Kopie eines im selben Jahr publizierten eigenständigen, aber anders betitelten Büchleins handelt (Patrice M. Dabrowski / Stefan Troebst: Vom Gebrauch und Missbrauch der Historie. Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa und Südosteuropa (1791–1989). Leipzig 2014 Working Paper Series. Global and European Studies Institute at the University of Leipzig, Bd. 7), einen thematischen Überblick zu Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa. Daniela Koleva und Stefan Rohdewald beleuchten in zwei anschließenden Aufsätzen die transnationalen Erinnerungsfiguren Kyrill und Method, an denen sich allem voran in der slawisch-orthodoxen Welt zahlreiche nationale Gründungsmythen orientieren. Beide eigneten sich hervorragend „[to] be instrumentalised for whatever national cause is ascendant at any given time, whether it be Orthodox Christianity, socialism, or, in recent years, a ‚Europeanisation‘ of Bulgarian national identity.“ (S. 87) Interessant ist hierbei die Ausformung unterschiedlicher und miteinander konkurrierender nationaler Referenzen auf die Brüder Kyrill und Method, etwa in Bulgarien und Makedonien.

Drei Aufsätze widmen sich im Folgenden dem in weiten Teilen Ostmittel-, aber auch Südosteuropas populären Marienkult als einem wichtigen identitätsstiftenden Orientierungsanker. Michaela Schäuble skizziert anhand der mannigfaltigen Marienkulte und ‑erscheinungen die visuelle Manifestation lokaler Erinnerung an Krieg und Gewalt in Kroatien. Dass der Marienkult auch außerhalb der römisch-katholischen Christenheit eine gewisse Virulenz besitzt zeigt Agnieszka Halemba auf, die die Marienverehrung in der ruthenischen griechisch-katholischen Eparchie Mukačeve vorstellt. Tatiana Podo­lin­ská wiederum weist nach, dass auch unter den slowakischen Roma der hl. Jungfrau Maria große Bedeutung als „ethnic, cultural and religious marker“ (S. 146) eingeräumt wird.

Die Parallelen und Unterschiede in der deutschen und polnischen Heiligenverehrung der Hedwig von Schlesien stellt Agnieszka Gąsior in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Von der piastischen Heiligen im Mittelalter über eine katholische Nationalheilige bzw. ein Vorbild protestantischer Tugend in der Frühen Neuzeit bis hin zu einer „Brückenheiligen“ im deutsch-polnischen Versöhnungsprozess der jüngsten Vergangenheit hat die Figur der Hedwig von Schlesien bis heute „ihr symbolisches Potential“ bewahrt, „das auch künftig unter veränderten Bedingungen abgerufen werden kann.“ (S. 184)

Der Glorifizierung und propagandistischen Instrumentalisierung des moldauischen Fürsten Stefan des Großen durch die rumänischen Nationalkommunisten unter Nicolae Ceauşescu bzw. nach dem politischen Umbruch von 1989 widmet sich Mirela-Luminiţa Mu­rgescu. Die rumänische Historikerin konzentriert sich hierbei vor allem auf Stefans des Großen idealisierte Darstellung im Film und in anderen Medien und seine Bedeutung für die irredentistische România Mare-Ideologie der rumänischen Nationalisten: „[Stephen the Great] is perceived as a Romanian symbol, and therefore Romanians are almost completely indifferent to the attempts of some politicians and intellectuals from the Republic of Moldova to appropriate Stephen as a symbol for a separate Moldovan statehood.“ (S. 196)

Den zweiten Themenblock der Aufsatzsammlung Die Verortung der Nation – visuelle Strategien in der Erinnerungspraxis eröffnen zwei Aufsätze zur ostmittel- und südosteuropäischen Bollwerkstopik. Małgorzata Morawiec versucht in ihrem kurzen Aufsatz, „die verschiedenen Inhalte und Formen des Begriffes antemurale zu unterscheiden“ (S. 201). Gelungen ist hierbei der Hinweis auf die Zweipoligkeit der jeweiligen Bollwerksvorstellungen: „Während der antemurale-Mythos im Diskurs der Historiker eine weltanschauliche Haltung widerspiegelt, offenbart er im politischen Diskurs sein Janusgesicht. Er wird für verschiedene politische Zwecke instrumentalisiert.“ (S. 207) Anne Cornelia Kenne­weg hingegen geht explizit auf die kroatischen Bollwerksbilder ein und kontrastiert diese mit Europa- und Balkandiskursen im 20. Jahrhundert. An dem kroatischen (wie im Übrigen auch im Falle des polnischen oder ungarischen) antemurale-Topos zeige sich das Streben eines in kultureller Hinsicht lange Zeit an der (abendländisch-christlich-)europäischen Peripherie gelegenen Landes, seine Europäizität unter Beweis zu stellen. Die Auseinandersetzung mit den kroatischen Bollwerksdiskursen ermögliche „den Zugang zu Zusammenhängen, die nur auf den ersten Blick einfach erscheinen, beim näheren Hinsehen aber einen Bereich der Europa-Diskurse in Kroatien voller Widersprüche, Uneindeutigkeiten und Konflikte erschließen“ (S. 234).

Dass es in einem Staat auch durchaus miteinander konkurrierende Konzepte nationaler Identität geben kann, beweist Elena Temper in ihrem Beitrag zu den antagonistischen Gründungsmythen in der unabhängigen Belarus. So wird vom belarussischen Staat eine in sowjetischer Tradition stehende Geschichts- und Erinnerungspolitik propagiert, die „den Sieg über die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg und insbesondere den Mythos von Belarus als Partisanenrepublik zum Gründungsmythos der modernen belarussischen Nation“ (S. 236) stilisiere. Ihren Gegenpol bildet der von der national gesinnten Opposition postulierte Mythos des Großfürstentums Litauen als erstem belarussischen Staat. Diese innerstaatliche erinnerungskulturelle Disparität scheint beim südlichen Nachbarn der Belarus noch ausgeprägter. Jenny Alwart weist in ihrem Aufsatz auf den in der Ukraine dominierenden Erinnerungstopos der „zwei Ukrainen“ hin, der „zwei einander ausschließende ideologische Projekte“ darstelle – einerseits den Europa zugewandten, sich an der frühneuzeitlichen Rzeczpospolita und der anschließenden Habsburgerherrschaft orientierenden Topos der rechtsdnjeprischen Westukraine, andererseits der sich an russischen Geschichtsbildern orientierenden Vorstellung einer Ost- und Süd­ukraine als fester, da historisch und ethnisch legitimierter Bestandteil Russlands. Alwart konzentriert sich hierbei auf das von Mykola Rjabčuk vorgebrachte Bild einer „dritten Ukraine“, die laut Letzterem „paradoxerweise […] die Spaltung in ‚zwei Ukrainen‘ verhindert“ habe. (S. 267) Alwarts wie auch Rjabčuks gutgemeinte Thesen scheinen aber mittlerweile von der Realität überholt worden zu sein, stand doch – angesichts der jüngsten Ereignisse rund um die Euromajdan-Bewegung, die russische Annexion der Krim oder den Bürgerkrieg in der Ostukraine – der unabhängige ukrainische Staat noch nie so nah vor einem Auseinanderbrechen in Ost und West wie jetzt.

Urbane Erinnerungsnarrative stehen im Zentrum der Abhandlungen von Oleksandr Grytsenko und Izabella Main. Ersterer schildert am Beispiel der westukrainischen Stadt Truskavec’ die transnationalen Verflechtung und ihre Auswirkungen auf regionale Kollektivgedächtnisse. Main hingegen zeichnet die Kommemorationen und Narrative zu den Arbeiterunruhen in Posen 1956 nach. Die zwei anschließenden und gleichzeitig auch letzten Beiträge des zweiten Themenblocks erörtern anhand zweier ausgewählter Beispiele den erinnerungskulturellen Nachklang des Realsozialismus in Osteuropa. Dragoş Petrescu geht hierbei auf die dichotome Resonanz der Ceauşescu-Ära in der rumänischen Öffentlichkeit nach 1989 ein. Arnold Barnetzky wiederum skizziert die weitläufigen Rekonstruktionen historischer Bauten in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als Ausdruck einer nationalen, zentralistisch gelenkten Erinnerungspolitik und verweist auf ihre Bedeutung als Idoneitätsnachweis staatlicher Unabhängigkeit: „Gerade in Ländern, die auf keine kontinuierliche eigenstaatliche Geschichte zurückblicken, kann der Rückgriff auf eine weit zurückreichende Vergangenheit durch Rekonstruktionen auch der historischen Legitimation politischer Souveränität dienen.“ (S. 327) Der Band schließt mit einem resümierenden Beitrag von Stefan Troebst mit Kommentaren von Rudolf Ja­wor­ski und Stephanie Schwandner-Sievers.

Den Herausgebern ist mit der vorliegenden Aufsatzsammlung ein bedeutender Beitrag zu der seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert bis heute immer noch recht populären Erinnerungsforschung gelungen. Zwar mag der eine oder andere Beitrag angesichts ähnlicher Publikationen der letzten Jahren (Joachim Bahlcke / Stefan Rohdewald / Thomas Wünsch (Hg.): Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff. Berlin 2013; Anne C. Kenne­weg / Stefan Troebst (Hg.): Marienkult, Cyrillo-Methodiana und Antemurale. Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa vor und nach 1989, Marburg (Lahn) 2009 = Themenheft der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57,3 [2008]); Stefan Zamerski / Krista Zach (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert, Köln, Weimar, Wien 2007) ein wenig redundant wirken, im Großen und Ganzen bietet der Sammelband aber viele neue Perspektiven auf die vielschichtige Thematik der Transnationalität in den Erinnerungskulturen des östlichen Mitteleuropa. Hervorzuheben ist vor allem die durchgehend gute Lesbarkeit und Textverständlichkeit der thematisch weit gestreuten Aufsätze, die trotz zumeist komplexer Zusammenhänge auch Laien einen Einstieg in die sich überlappenden Erinnerungsnarrative Ostmitteleuropas ermöglichen. Einzig das Fehlen eines für die schnelle Orientierung unerlässlichen Personen- und Ortsregisters mag den mehr als positiven Gesamteindruck trüben.

Paul Srodecki, Kiel

Zitierweise: Paul Srodecki über: Agnieszka Gąsior / Agnieszka Halemba / Stefan Troebst (Hg.): Gebrochene Kontinuitäten. Transnationalität in den Erinnerungskulturen Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2014. 352 S., 63 Abb.. = Visuelle Geschichtskultur, 13. ISBN: 978-3-412-22256-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Gasior_Gebrochene_Kontinuitaeten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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