Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Paul Srodecki

 

Patrice M. Dabrowski / Stefan Troebst: Vom Gebrauch und Missbrauch der Historie. Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa (1791–1989). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2014, 67 S. = Working Paper Series. Global and European Studies Institute at the University of Leipzig, 7. ISBN: 978-3-86583-845-2.

Im Zentrum der kurzen Abhandlung steht die Instrumentalisierung von Geschichte als „politisches Argument“ (S. 5) durch Herrscher und Beherrschte gleichermaßen. Den thematischen Rahmen bilden hierbei die Geschichtspolitiken und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis ins späte 20. Jahrhundert. Der Text gliedert sich in fünf Teile. Nach einer knappen Einführung, die die benutzten Termini kurz erläutert und den Forschungsstand skizziert, werden die im sogenannten „langen“ 19. Jahrhundert dominierenden, von der Romantik und dem aufkommenden Nationalismus beeinflussten Erinnerungsnarrative beleuchtet. Thematisiert werden u. a. das auch als Völkerfrühling bezeichnete und vor allem für weitere Entwicklungen im habsburgischen Herrschaftsraum so bedeutende Revolutionsjahr 1848, die Utopie des Panslawismus, der „Sonderfall“ Osmanisches Reich und die „ethnoreligiös geprägte(n) Erinnerungskulturen“ (S. 36) der Nationalgesellschaften auf dem Balkan. Diesem längeren Kapitel stellen die Autoren quasi als Gegenspiegel die Neu- und Umformungen der verschiedenen Erinnerungs- und Nationaldiskurse in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg gegenüber. Der vierte Abschnitt behandelt sodann die Einbindung der Erinnerungsnarrative in die Geschichtspolitiken der nationalkommunistischen Regime in Osteuropa von 1945 bis 1989.

Mit dem Beitrag ist den Autoren im Wesentlichen der Versuch gelungen, einen episodenhaften Abriss der heterogenen Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa zu geben. Resümierend weisen Dabrowski und Troebst auf die erinnerungskulturellen Gemeinsamkeiten der verschiedenen Nationalgesellschaften und Staaten Ostmittel- und Südosteuropas hin. So sei insbesondere die transnational prägende Dimension der Religion für diese Region hervorgehoben, „hier vor allem ihre kultischen Elemente wie der primär römisch-katholische Marienkult, der indes auch in den orthodoxen Bereich übergreift, desgleichen der für ganz Ostmittel- und Südosteuropa typische Kult um Nationalpatrone, wobei vor allem derjenige um die ‚Slavenapostel‘ Kyrill und Method konfessionsübergreifend wirkt“. (S. 63) In dem hier behandelten ostmittel- und südosteuropäischen Raum hätten – im Gegensatz zu Westeuropa – das Überdauern der in ihrer ethnischen Zusammensetzung heterogenen Herrschaftskonglomerate „von Osmanen, Habsburgern und Romanovs bis in das 20. Jahrhundert und der dadurch bedingte späte Beginn der Nationalstaatsbildung“ in erster Linie dafür gesorgt, dass „die Konzepte von ‚Nation‘ und ‚Religion‘ so eng miteinander verknüpft“ (S. 7) seien. Als wirkmächtig erachten die Verfasser zudem richtigerweise die „transnationale[n] Erinnerungstopoi vom antemurale-Typus, der teils religiös, teils zivilisatorisch konnotiert ist“, wie auch die supranationalen Identitätskonstruktionen einer „allslavischen Gemeinsamkeit“. (S. 64) Vor allem im Hinblick auf die ostmittel- und südosteuropäischen Bollwerksdiskurse muss aber deren oberflächliche Skizzierung durch die Verfasser enttäuschen. Während dem kroatischen Vormauertopos noch ein eigenständiges – aber sehr kurzes – Unterkapitel (S. 42–44) eingeräumt wird, werden die ungarischen oder polnischen Bollwerksbilder nur im Vorübergehen angedeutet. Dabei sind – abgesehen von der nota bene weit größeren Überlieferungsdichte als in Kroatien – die antemurale-Topoi in Ungarn und Polen seit dem späten Mittelalter von zentraler Bedeutung für die erinnerungskulturellen Identitätskonstruktionen dieser Länder gewesen.

Abschließend verweisen die Autoren auf drei Faktoren, die die Kollektivgedächtnisse in Ostmittel- und Südosteuropa grundlegend bestimmten: Zum Einen sei die individuelle Erfahrung der Zwischenkriegszeit, des Zweiten Weltkrieges wie auch der Zeit des Staatssozialismus nach 1989/1991 in zahlreichen Memoiren publiziert worden und sorge bis heute für eine fortwährende Präsenz der – je nach Verfasser – unterschiedlichen Erinnerungsnarrative. Zum Anderen spielten in dem behandelten Raum das Familiengedächtnis und die mündliche Überlieferung eine beträchtliche Rolle. Darüber hinaus seien „die regierungsamtlichen Gebrauchs- und Missbrauchsweisen von Geschichte seit der ‚Wende‘ vor allem eine Wiederholung der Geschichtspolitik der Regierungen der Zwischenkriegszeit.“ (S. 64)

Neue Erkenntnisse liefert die Abhandlung hiermit nicht und kann sie auch ob der kurzen Darstellung und des geographisch wie zeitlich weit gefassten Themas nicht liefern. Vielmehr eignet sich das Büchlein hervorragend als Einstiegs- und Überblickslektüre zu den osteuropäischen lieux de mémoire und ihrer Instrumentalisierung vom späten 18. Jahrhundert bis zum Zusammenbruch des Ostblocks 1989. Zielgruppe dürften hier also vor allem Geschichtsstudenten sein, liefert der Beitrag doch neben einem thematischen Querschnitt auch wertvolle bibliographische Hinweise zu den ostmittel- und südosteuropäischen Erinnerungsnarrativen und Identitätskonstruktionen.

Paul Srodecki, Gießen

Zitierweise: Paul Srodecki über: Patrice M. Dabrowski / Stefan Troebst: Vom Gebrauch und Missbrauch der Historie. Geschichtspolitik und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Südosteuropa (1791–1989). Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2014, 67 S. = Working Paper Series. Global and European Studies Institute at the University of Leipzig, 7. ISBN: 978-3-86583-845-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Srodecki_Dabrowski_Gebrauch_und_Missbrauch.html (Datum des Seitenbesuchs)

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