Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Norbert Spannenberger

 

Attila Kolontári: Hungarian-Soviet Relations, 1920–1941. Boulder, CO; New York: Social Science Monographs; distributed by Columbia University Press, 2010. VIII, 566 S. = East European Monographs, DCCLXXII; Atlantic Studies on Society in Change, 136. ISBN: 978-0-88033-675-8.

Der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie, der Zerfall destausendjährigen ungarischen Königreichesund dessen staatsrechtliche Sanktionierung in Trianon führten in Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zu einer dauerhaften innenpolitischen Destabilisierung. Eine zusätzliche Steigerung des Gefühls der Ohnmacht und Hilflosigkeit erzeugte in der Öffentlichkeit die im März 1919 ausgerufene Räterepublik, die nach ihrem Sturz auch die erwünschten Feindbilder lieferte: Kommunisten und Juden bzw. jüdische Kommunisten, die in der Exekutive der Rätediktatur überproportional vertreten waren. Diese Erfahrung determinierte auch die diplomatische Positionierung Ungarns gegenüber der Sowjetunion, zumal etliche Führungsfiguren des Räteregimes im Mutterland des Kommunismus Asyl erhielten.

So fragt der Autor mit Recht nach der Langzeitwirkung emotionaler und ideologischer Komponenten bzw. in welchem Maße die ungarischeRealpolitiksich von solchen beeinflussen ließen? Zumal der sog.Weiße Terrordes Horthy-Regimes im Spätsommer 1919 umgekehrt nicht minder ein Dorn im Auge der Sowjetunion war. Daraus folgend stellt sich der Autor die Frage, inwiefern Ungarn zummitteleuropäischen Interessengebietder sowjetischen Außenpolitik gehörte? Zunächst schien nichts darauf hinzudeuten, da Ungarn als Verlierer des Ersten Weltkrieges keineswegsattraktiv‘ erschien, doch auch die Sowjetunion war mit innenpolitischenökonomischen wie sozialenSchwierigkeiten konfrontiert. Dies änderte sich bis Ende der 1930er Jahre, als Ungarn partielle Erfolge in seiner Revisionspolitik verzeichnen konnte und die Sowjetunion sich alswiedergeborene Großmacht‘ neben dem Dritten Reich in der östlichen Hälfte Europas zu engagieren begann.

Unter der Prämisse dieser Überlegungen werden die sowjetisch-ungarischen diplomatischen Beziehungen von 1920 bis 1941 chronologisch abgehandelt und Zäsuren herausgearbeitet. Die 1920er Jahre waren die Zeit der vorsichtigen Annäherung im Spannungsfeld ideologischer Vorbehalte, wobei der Austausch von Kriegsgefangenen bzw. in Ungarn gefangen gehaltener Kommunisten und vor allem ökonomische Interessen im Vordergrund standen. Letztere leiteten vor allem Ungarn, und ebenfalls Ungarn bat immer wieder um die Freilassung von offiziell 6.000 bis 7.000 ungarischen Kriegsgefangenen, wobei deren Zahl allerdings von manchen Institutionen damals deutlich höher geschätzt wurde. Erst die Machtergreifung der Nationalsozialisten und die Aussöhnung Moskaus mit Warschau und Paris führten zu einer Dynamisierung der diplomatischen Annäherung, da weder Budapest noch Moskau Interesse an einer Kooperation kleiner(er) mittel- und südosteuropäischer Staaten hatten. Hierbei spielte die Politik des neuen ungarischen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös (1932–1936) eine signifikante Rolle, der im Hintergrund auch an einem Bündnis zwischen Rom und Berlin arbeitete. Am 6. Februar 1934 unterzeichneten in Rom sowjetische und ungarische Diplomaten drei Dokumente, die die diplomatischen Beziehungen regelten und eine zügige Einrichtung von Botschaften erklärten. Ungarn erkannte, dass der Sowjetunion nicht an einer Aussöhnung mit den Ländern der Kleinen Entente gelegen war, und hoffte infolge der Veränderungen in Berlin, auch Moskau gegen die Versailler Ordnung aktivieren zu können. Zudem nahmen die Spannungen mit Rumänien zu. Doch die Sowjetunion trat letztlich für den Status quo ein und ließ sich nicht im Sinne ungarischer Revisionswünsche instrumentalisieren.

Richtig beschreibt der Autor die beschränkten Handlungsspielräume ungarischer Diplomatie in der Zwischenkriegszeit; er zeichnet aber auch Erfolge nach, die analytisch markanter hätten ausgearbeitet werden können: 1935/36 kam es beispielsweise zu einer sowjetisch-rumänischen Annäherung, die durch ungarische Interventionen in Berlin verhindert werden konnte. Die Ambivalenz ungarischer Revisionspolitik wurde von den sowjetischen Diplomaten zutreffend analysiert: Einerseits wurde Ungarn alsVasallBerlins eingestuft, andererseits aber auch als dessenpotentielles Opfer. Nach dem Münchner Abkommen schlug Moskau den Weg deswait and seeein, doch mit dem Beitritt Ungarns zum Antikominternpakt am 24. Februar 1939 wurden sämtliche offiziellen Beziehungen abgebrochen.

In dieser sehr narrativ gehaltenen Arbeit stehen die Wandlungen der diplomatischen Beziehungen zwischen Moskau und Budapest im Fokus, wobei einen deutlichen Schwerpunkt die Zeit zwischen 1938 und 1941 bildet. Die auf umfangreicher Quellenarbeit ruhenden Ausführungen beinhalten viele Anekdoten, die auch heitere Aspekte haben, wenn etwa der sowjetische Botschafter in Ungarn den Ministerpräsidenten Gömbös als einenstämmigen und übergewichtigen Kulakencharakterisiert oder wenn sich herausstellt, dass sich in der ungarischen Botschaft in Moskau auchgeheime Quellenfür die sowjetischen Nachrichtendienste befanden. Für die systematische Erschließung des Themas gebührt dem Autor dank, offen bleibt allerdings die Frage, wie etwa die Wendungen der Diplomatie gerade wegen ihrer ideologischen Komponenten gegenüber der eigenen Öffentlichkeit begründet und legitimiert wurden? Gab es auch einen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung des jeweils anderen Landes, oder aber blieben die diplomatischen Richtungswechsel letztlich eine Sphäre derGeheimdiplomatie?

Norbert Spannenberger, Leipzig

Zitierweise: Norbert Spannenberger über: Attila Kolontári: Hungarian-Soviet Relations, 1920–1941. Boulder, CO; New York: Social Science Monographs; distributed by Columbia University Press, 2010. VIII, 566 S. = East European Monographs, DCCLXXII; Atlantic Studies on Society in Change, 136. ISBN: 978-0-88033-675-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Spannenberger_Kolontari_Hungarian-Soviet_Relations.html (Datum des Seitenbesuchs)

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