Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Norbert Spannenberger

 

Severin Gawlitta: Zwischen Einladung und Ausweisung. Deutsche bäuerliche Siedler im Königreich Polen 1815–1915. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. IX, 379 S., Kte., Tab. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 20. ISBN: 978-3-87969-353-5.

Die deutschsprachige Forschung hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen überaus lange über Siedlungsbewegungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit ausgeschwiegen. In jüngster Zeit dagegen erfolgt ein Aufschwung an Arbeiten über Migrationen. Genau aus diesem Grund beteuert auch der Verfasser, sich mit einementpolitisierten und nüchternen Blickdem Thema zu nähern, was ihm auch gelingt: So definiert erdeutsche Siedlervor allem nicht nach ethnischen Kriterien, sondern als eine seit dem 18. Jahrhundert rechtlich definierte Gruppe in Relation zu deneinheimischen Kolonisten, verweist auf die Unhaltbarkeit einerKontinuitätzu den mittelalterlichen Ostkolonisationen, die jedoch erst im späten 19. Jahrhundert konstruiert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überstrapaziert wurde, und kontextualisiert diese kolonizacja im Rahmen einer vom Staat und von privaten Herrschaften bewusst forcierten Modernisierungspolitik. Hierbei spielten natürlich aktuelle Impulse stets eine Initiativrolle: Die napoleonischen Kriege beispielsweise verursachten in Polen einen Bevölkerungsrückgang von etwa 20 %, so dass der Mangel an Arbeitskräften die politische Elite in mehrfacher Hinsicht zur Kolonisationspolitik anleitete.

Im Mittelpunkt der Untersuchungen steht die Interaktion zwischen Siedlern und Staat, und dieses Wechselverhältnis wird von der Makro-, über die Meso- bis hin zur Mikroebene analysiert. Besonders bei der letztgenannten sind allerdings Quellenprobleme nicht zu übersehen, die vom Autor deutlich gemacht und deren Herausforderungen elegant gelöst werden. Solche Hürden umschiffend, stellt er die polnischen Kolonisationen des 19. Jahrhunderts in einen Kontext mit den Ansiedlungen im 18. Jahrhundert, womit Konturen der Unterschiede wie der Gemeinsamkeiten deutlich gemacht werden. Diese sehr gut geschriebene und strukturierte Monographie liefert auch in einem anderen Zusammenhang etliches Material zum Nachdenken: Schon erste Vergleiche mit den sog. Kameralansiedlungen in den Neoaquistica-Gebieten der Habsburgermonarchie zeigen Ergebnisse, die zu weiteren komparativen Überlegungen anregen: die Flexibilität und Effizienz der privatherrschaftlichen Kolonisationen im Vergleich mit den staatlichen, die auf allen Seiten klar artikulierten Hoffnungen und Enttäuschungen vor und nach den Kolonisationsaktionen, die Konfliktaustragungen und die Lösungsansätze (Nachbesserungen der Konditionen auf der einen und Abwanderungsbereitschaft auf der anderen Seite) usw. Der Autor zeigt zudem mit Recht, dass Privilegien keinerlei Garantie für sozio-ökonomische Erfolge waren, wie das in der Historiographie erst im Geiste der Nationalromantik entdeckt und überbewertet wurde.

Doch allein schon die Kolonisierungsintention regte umfassende Reformen an, sodass die Kolonisation per se modernisierungsfördernd wirkte: Die Umstellung von der Fron- auf die Zinswirtschaft gehörte ebenso dazu wie die Gewährung von Privilegien, deren soziale Wirkungsmächtigkeit in den Aufnahmegesellschaften sicherlich noch intensiver erforscht werden sollte. Doch auch die Schattenseiten bzw. Misserfolge werden vom Autor kontrastreich dargestellt: Indem die Siedler nicht selten alsnutzloseundfauleArme eingestuft wurden, drangen die polnischen Behörden zunehmend auf eine Filtrierung der Ansiedlungswilligen in ihren Heimatländern, auf deren Kategorisierung und auf eine straffe Lenkung der Siedlungsaktionen.

Einen zentralen Punkt in der Arbeit nimmt die Integration der Kolonisten ein, die in den polnischen Siedlungsgebieten bewusst auf Separierung setzten, um ihre evangelisch-lutherische Religion wie auch ihre deutsche Kultur zu bewahren. Dies wurde anfangs auch vom ökonomischen System, etwa dem sog. Solidarprinzip, also der gemeinsamen Besteuerung einer Gemeinde, gefördert. Doch sozio-ökonomische Transformationsprozesse trugen zur Lockerung bei. Schon aus Gründen der Quellenüberlieferung spielen für den Autor Kirche und Religion eine wichtige Rolle in den Integrationsprozessen, was inhaltlich überzeugend nachgezeichnet wird. Die Probleme der Interethnizität wiederum stehen in einem stark politikgeschichtlichen Kontext. Der Verweis auf die Konstruktion von Nationalhistoriographien und deren Unhaltbarkeit bildet ohnehin ein Ceterum censeo. Doch auch hierbei sind neue Gesichtspunkte beim Vergleich mit anderen ostmitteleuropäischen Regionen aufschlussreich.

Norbert Spannenberger, Leipzig

Zitierweise: Norbert Spannenberger über: Severin Gawlitta: Zwischen Einladung und Ausweisung. Deutsche bäuerliche Siedler im Königreich Polen 1815–1915. Marburg/Lahn: Verlag Herder-Institut, 2009. IX, 379 S., Kte., Tab. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 20. ISBN: 978-3-87969-353-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Spannenberger_Gawlitta_Zwischen_Einladung_und_Ausweisung.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Norbert Spannenberger. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.