Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Flavius Solomon

 

Simon Geissbühler: Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2013, 229 S., 28 Abb., 7 Ktn. ISBN: 978-3-506-77675-4.

Die Judenverfolgung in den von Rumänien während des Zweiten Weltkrieges verwalteten Gebieten wurde nach 1945 lange Zeit von den rumänischen Historikern außer Acht gelassen. Zwar wurden kurz nach der Beendigung des Kriegs einige Quellen publiziert, wie etwa das Schwarzbuch von Matatias Carp (Matatias Carp: Cartea Neagră. Suferinţele evreilor din România 1940–1944 [Das Schwarzbuch. Das Leiden der Juden Rumäniens 1940–1944]. Bucureşti, 1947), doch zu einer systematischen Erforschung des Holocaust kam es in Rumänien bis zur politischen Wende von 1989 nicht. In den ersten Jahren nach der Machtübernahme waren die rumänischen Kommunisten bemüht, ihre exklusive politische Stellung mittels der Durchsetzung der Klassenkampfideologie zu sichern und verzichteten somit bewusst auf eine Ethnisierung des öffentlichen Raums. Ende der 1940er, und Anfang der 1950er spürten dann auch die rumänischen Juden das Echo der antisemitischen Maßnahmen in der UdSSR; später dann fiel die Erforschung der Geschichte der Minderheiten in Rumänien dem National-Kommunismus von Nicolae Ceau­şescu zum Opfer. Die Relativierung oder gar die Verneinung der Teilnahme Rumäniens an der Judenverfolgung in den Jahren vor und während des Zweiten Weltkriegs findet ihren Widerhall auch in vielen Schriften rumänischer Historiker nach der Wende. Auch die westliche Geschichtsschreibung betrat dieses Forschungsfeld erst spät. Der Grund dafür lag in erster Linie in der Unzugänglichkeit der für das Thema relevanten rumänischen und moldauischen Archivquellen.

Die politische Zäsur von 1989 stellte dennoch einen Neubeginn für eine kritische Erforschung des Themas in Rumänien und in der Republik Moldau dar. Gleichzeitig ermöglichte die stufenweise erfolgte Öffnung der Archive die Einbeziehung der Geschichte der Judenverfolgung in Rumänien und in den von Rumänien verwalteten Gebieten in die internationale Holocaustforschung. Es sind hier zu erwähnen die Arbeiten von Jean Ancel, Radu Ioanid, Carol Iancu, Armin Heinen, Wolfgang Benz, Dennis Deletant, Vladimir Solonari, Mihai Chioveanu, Hildrun Glass, Diana Dumitru, Adrian Cioflâncă u. a.

Die Publikation einer bereits beeindruckenden Anzahl von Quellen und die Untersuchung vieler wichtiger Aspekte der Geschichte der rumänischen Juden am Vorabend und während des Zweiten Weltkriegs stellt aber nur den Anfang für eine Erforschung auf der Mikroebene dar. Dies ist auch der Beweggrund für Simon Geissbühler, sich auf das Fallbeispiel Nordbukowina und Nordbessarabien in Juli 1941 zu beschränken.

In drei Kapiteln nimmt der Verfasser auf einer breiten Quellengrundlage (Autobiographien, Memoiren, Interviews Überlebender usw.) wichtige Aspekte der Massaker an den Bukowina- und Bessarabienjuden im Juli 1941 unter die Lupe. Der Autor gliedert seine Arbeit folgendermaßen: 1. die Chronologie des Massenmordes; 2. Motive und Handlungsspielräume; 3. Methodik des Mordes; 4. Kollaborateure; 5. Mitwisser und Profiteure; 6. Opferperspektive und ‑profile; 7. Opferzahlen. Dabei kommt der Autor zur Schlussfolgerung, dass die Massaker an den Juden in den von Rumänien im Juli 1941 neu eroberten Gebieten die Folge eines Vernichtungskriegs waren.

Von der Mikroebene ausgehend, verfolgt der Autor abschließend die Frage nach den Gründen für den Antisemitismus in Rumänien und stellt fest, dass die Diskriminierung der Juden, die 1940–1944 in Massaker und Massenmorde mündete (nicht nur in der Bukowina, in Bessarabien und Transnistrien, sondern auch in Bukarest und in der Moldau), religiöser, kultureller und wirtschaftlicher Natur war.

Was vom Verfasser weniger berücksichtigt wird, ist der Zusammenhang zwischen dem Krieg und der unkontrollierten Gewalt. Kaum erläutert ist auch die Frage, wie die deutschen Militärbehörden die Massaker und Massenmorde an den Bukowina- und Bessarabienjuden durch die rumänische Armee und durch christliche Lokalbevölkerung beeinflussten und welche Rolle Rumänien von Nazi-Deutschland bei der Vernichtung der europäischen Juden zugedacht war (s. dazu: Hildrun Glass: Deutschland und die Verfolgung der Juden im rumänischen Machtbereich 1940–1944. München 2014). Für eine eventuelle Neuausgabe des Buchs würde sich auch die Einbeziehung anderer heutzutage zugänglicher Quellen lohnen wie Personalakten der in die Massaker und Massenmorde verwickelten Offiziere im Rumänischen Militärarchiv in Piteşti. Für die „Vorgeschichte“ des Holocaust, das heißt für die Geschichte der Politik des rumänischen Staats gegenüber den ethnischen Minderheiten in der Zwischenkriegszeit, inklusive gegenüber den Juden, wären zusätzlich zu der im Anhang aufgelisteten Bibliographie wichtige Arbeiten von Irina Livezeanu (Cultural Politics in Greater Romania: Regionalism, Nation Building, and Ethnic Struggle, 1918–1930. Ithaca, New York, 1995) und Hildrun Glass (Zerbrochene Nachbarschaft: das deutsch-jüdische Verhältnis in Rumänien (1918–1938). München 1996) zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang wäre auf eine bessere Berücksichtigung der Chronologie der Geschichte Rumäniens bis 1940/41 zu achten. Auf Seite 30 behauptet der Autor fälschlicherweise, dass Rumänien bis zum Ersten Weltkrieg nur aus den historischen Regionen Walachei und Moldau bestanden habe und dass die Dobrudscha erst 1919 Teil Rumäniens geworden sei. Dem Leser ist auch nicht ganz klar, wann und unter welchen Umständen Bessarabien seine staatsrechtliche Stellung änderte und warum der Autor von einer gesonderten, in der Tat nicht vorhandenen Region „Nordbessarabien“ spricht.

Flavius Solomon, Jassy

Zitierweise: Flavius Solomon über: Simon Geissbühler: Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2013, 229 S., 28 Abb., 7 Ktn. ISBN: 978-3-506-77675-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Solomon_Geissbuehler_Blutiger_Juli.html (Datum des Seitenbesuchs)

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