Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Felicitas Söhner

 

Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Izabela Surynt und Marek Zybura. Osnabrück: fibre, 2010. 398 S. = Studia Brandtiana, 2. ISBN: 978-3-938400-55-5.

Die miteinander verflochtene Geschichte der polnischen und der deutschen Nation spiegelt sich auch in deren Nationalliteraturen wider. Von daher überrascht es nicht, dass die Imagination der eigenen Identität ständig mit der Abgrenzung von der anderen Nation verbunden war und immer noch ist. Der hier besprochene Band knüpft genau an diesem Punkt an. Die beiden Herausgeber betonen im Vorwort, dass Nationalliteraturen keineswegs als endgültig festgelegtes, einheitliches Phänomen, sondern vielmehr als heterogenes Projekt aufzufassen seien, welches einer stetigen Auseinandersetzung bedarf.

Im ersten Buchabschnitt widmen sich drei Autoren in grundsätzlichen Überlegungen dem identitätsstiftenden Wirken von Nationalliteraturen. Gleichzeitig dienen diese Beiträge als thematische Basis und Klammer, für die im darauffolgenden Abschnitt enthaltenen Texte. Mit einer Untersuchung des Konstruktionscharakters von Nationalliteraturen wartet Walter Schmitz in seinem Beitrag auf. Dabei konstatiert er eine bis heute existente Verflechtung von Nationalliteratur und Prozessen der Nationsbildung. Im folgenden Kapitel geht Jürgen Joachimsthaler auf die Abhängigkeiten von Nation, Stil und verzögerten Wandel ein, welche sich bis heute in einem Ringen nationaler Gemeinschaften um Integrität, Stabilität oder gar Homogenität zeigt. Hubert Orłowski beschäftigt sich in seinem Aufsatz insbesondere mit Analysen und Reflexionen zur zeitgenössischen polnischen und deutschen Nationalliteratur. Er bekräftigt, dass eine nationale Identität „als eine Art von Minimum-Programm, ohne Anspruch auf Integrations- und Abgrenzungsfunktion, nicht mehr ausreiche[n]“ (S. 83) würde.

Der nächste Teil des Buches enthält diverse Fallstudien zu den „Entwürfen des Nationalen im Vergleich“, unter denen sich verschiedene Schwerpunkte ausmachen lassen. Im ersten Beitrag interpretiert Mirosława Zielińska eine Neulektüre von Adam Mickiewicz’ „Büchern des Polnischen Volkes“ als Anti-Hegel-Prophetie, aus welcher ersichtlich wird, in welch starkem Maße sich die polnischen Nationaldichter auch an europaweit diskutierten Ideen und Konzepten orientierten. Anschließend analysiert German Ritz die romantische Kosakenfigur in der polnischen Romantik unter dem nationalen Aspekt. Dabei kristallisiert er das gewichtige Themenfeld des „Ostens“ heraus, in welchem es vor allem um dessen Relevanz und Stellenwert für die Herausbildung einer polnischen Nationalidentität geht.

Die folgende Gruppe von Beiträgen untersucht vor allem die Bedeutung von Stereotypen, Mythen und Topoi in der beiderseitigen Wahrnehmung und Narrationen von Polen und Deutschen. Marek Zybura beschäftigt sich in seiner Analyse mit dem in der Romantik entstandenen polnischen Deutschenbild vom Kreuzritter. Diesen „Mythos des Krzyżak“, welcher so lange die deutsch-polnischen Beziehungen belastete, wähnt der Autor immer noch präsent. In der folgenden vergleichenden Analyse über die polnischen und deutschen Tannenberg-Grunwald-Imaginationen des „langen 19. Jahrhunderts“ greift Piotr Pryzbyła ebenfalls die Gleichsetzung von „Deutschem Orden“ und „den Deutschen“ auf. Dabei stellt er die konstituierende Rolle der Geschichtswissenschaft als imaginative Fundierung der Nation und des Nationalstaates“ (S. 160) dar. Der Beitrag von Izabela Surynt beleuchtet den Kreuzrittermythos und dessen Verbindung mit der deutschen Kulturideologie im späteren 19. Jahrhundert. Hier beleuchtet die Autorin insbesondere die Funktion des spezifisch deutschen Bildungs- und Kulturbegriffs als Kompensationsinstrument gegenüber einer bürgerlichen politischen Ohnmacht.

Die Autoren der folgenden drei Studien behandeln die Fragen der Literarisierung des „Anderen“ in Werken des polnischen Positivismus und des deutschen Realismus. Rudolf Urban beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Viebigs Roman „Das schlafende Heer“ als Teil der Ostmarkenliteratur, welcher seiner Ansicht nach als eine Art historisches Dokument der preußischen Propaganda (S. 212) zu werten ist. Der Verfasser verweist auf eine ausdrücklich negative Konnotation des Bildes von Polen und seinen Bewohnern. Magdalena Lasowy untersucht die Darstellungen von Adel und Bürgertum und des städtischen Raums in den Romanen von Prus’ und von Freytag, welche jeweils die eigene nationale Identität widerspiegeln. Beide Romane problematisieren nicht nur das Zusammentreffen der bürgerlichen und der adeligen Welt, sondern auch die Begegnung verschiedener Zeiträume und Denkweisen. Anna Wala untersucht in ihrem Beitrag die Chroniken von Prus insbesondere auf deren Darstellung von deutschen Sitten und polnischen Unsitten hin, womit der Autor seine Zeitgenossen zu einem Umdenken und zu positiven Veränderungen bewegen wollte.

In den folgenden beiden Beträgen wird die bilaterale Perspektive um nationale Mythen und Entwürfe des Judentums erweitert. Oliver Geisler befasst sich in seinem Aufsatz mit Exklusionsstrategien in Raabes „Hungerpastor“. Die Konkurrenzgeschichte beschreibt Denkweisen und Haltungen, denen die Verantwortung für die zeitgenössische Problematik zugeschrieben wurde. Annette Teufels Studie über die Entwürfe der jüdischen Nation und die Gründungsmythen des Staates Israel deckt auf, wie zahlreich die Überlappungen und Analogien in den verschiedenen nationalen Entwürfen des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren, was wiederum auf einen intensiven Austausch der diversen europäischen Nationsdebatten verweist.

Die anschließende Gruppe von Aufsätzen bezieht sich auf zeitgeschichtliche Aspekte in der Gegenwartsliteratur. Der Beitrag von Dariusz Wojtaszyn befasst sich mit der Resistenz und Lebendigkeit des Stereotyps der „polnischen Wirtschaft“ anhand des Umgangs der Regierung und der Parteiführung der DDR mit der Solidarność-Bewegung in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Hierzu analysierte er vergleichend die ostdeutsche Presse jenes Zeitraums. Malwina Orepuk thematisiert in ihrer Studie die nationale Identität der Deutschen im Zusammenhang mit der Erinnerung an die Zerstörung Dresdens im Zweiten Weltkrieg. Dabei konzentriert sie sich weniger auf das individuelle oder soziale Kurzzeitgedächtnis, sondern vielmehr explizit auf das kulturelle Langzeitgedächtnis.

Der abschließende Aufsatz von Eva und Hans Henning Hahn zum „deutschen Osten“ beschäftigt sich mit dessen Mythos als „verlorenes Traumland“. Das Historikerpaar konstatiert phraseologische Kontinuitäten einer Verlustrhetorik von der Nachkriegszeit bis heute. Sie betonen die nationsstiftende Bedeutung jener Verlustrhetorik für das deutsche Selbstbild und die Narrative des Nationalen.

Insgesamt fällt eine differenzierte Bilanz des recht heterogenen Sammelbandes „Narrative des Nationalen“ nicht leicht. Die Aufsätze der ersten Sektion bieten wichtige, grundlegende Überlegungen zum Einfluss der Literatur auf die gegenwärtigen Nationsdiskurse. Den literaturwissenschaftlichen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie die wechselseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten nationaler Diskurse insbesondere in der Literatur hervorheben. Die einzelnen geschichtlichen Studien ergänzen dieses Postulat und bieten aufschlussreiche Einsichten in die historischen wie zeitgenössischen Beziehungen zwischen Polen und Deutschen. Aufgrund deren ungleicher Gewichtung erscheint der polnische Buchtitel „Die erzählte Nation“ deutlich treffender. Insgesamt bieten die Untersuchungen interessante Impulse zu einer vertiefenden Beschäftigung mit den deutsch-polnischen Nationsdiskursen.

Felicitas Söhner, Dillingen

Zitierweise: Felicitas Söhner über: Narrative des Nationalen. Deutsche und polnische Nationsdiskurse im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Izabela Surynt und Marek Zybura. Osnabrück: fibre, 2010. 398 S. = Studia Brandtiana, 2. ISBN: 978-3-938400-55-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Soehner_Surynt_Narrative_des_Nationalen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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