Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Gerhard Seewann

 

Regina Fritz: Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944. Göttingen: Wallstein, 2012. 364 S. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 7. ISBN: 978-3-8353-1058-2.

Die politische Elite Ungarns setzt die Instrumentalisierung von Geschichte zum Zweck der Legitimation ihres Handelns seit langem ein. Die Politisierung der Geschichtsschreibung durch Umdeutung historischer Zäsuren wie der beiden Revolutionen von 1848 und 1956, des Millenniums 1896, des Friedensvertrags von Trianon 1920 oder der beiden Katastrophen von 1526 (Mohács) und 1945 weist viele Varianten auf. Eine davon war der Versuch einer Enteignung der Geschichte im Kádárismus, der auf eine Entpolitisierung der ungarischen Gesellschaft abzielte. In dieser von 1956 bis Anfang der achtziger Jahre andauernden Periode wurde der Judenmord verschwiegen, Täter wie Opfer wurden der Erinnerung daran beraubt, jeglicher Antisemitismus war verboten, selbst das Wort „Jude“ tabuisiert. Deshalb war im Ungarn-Pavillon der 1960 in Auschwitz eingerichteten internationalen Ausstellung zum Gedenken an den Holocaust nur von ungarischen Opfern die Rede. Mit keinem Wort hat diese bis 1980 gültige Ausstellung erwähnt, dass Juden und Zigeuner die Opfer waren. Doch nach 1980 hielten die Dämme des Verschweigens und des Vergessens bereits nicht mehr, und mit dem Systemwechsel von 1989 spitzte sich die Erinnerung in ein die ganze Gesellschaft „verzehrendes historisches Fieber“ (Friedrich Nietzsche) zu. Es ist ein bleibendes Verdienst der vorliegenden Arbeit – ursprünglich eine an der Universität Wien approbierte Dissertation –, auf geschichtspolitische Gemeinsamkeiten, aber auch auf weniger ins Gewicht fallende Unterschiede der beiden historischen Perioden 1945 bis 1949 und 1989 bis 2009 aufmerksam zu machen. In beiden Perioden setzte sich ein Opferdiskurs durch, der im Bemühen um den Wiederaufbau der „Nation“, ja der Restitution von Nation, nach den Katastrophen des Zweiten Weltkriegs wie des Kommunismus nur das hervorhob, was die Gesellschaft zu einigen vermochte. Das womöglich Trennende, die Frage nach Kollaboration und historischer Mitverantwortung an beiden Katastrophen, insbesondere am Holocaust, zugespitzt in der Frage nach den Tätern, wurde – wie es Regina Fritz ausdrückt - „externalisiert“ und das ungarische Volk exkulpiert: Das Böse kam von außen, aus Berlin oder Moskau, und dieses Böses ist schuld, wir sind es nicht. Das ist auch die bis heute unverändert gebliebene Botschaft des von der ersten Regierung Viktor Orbáns eingerichteten Museums „Haus des Terrors“, die eine Relativierung des Holocausts im Zuge der Viktimisierung der ganzen ungarischen Gesellschaft durch Faschismus und Kommunismus vornimmt. Damit wird der Diskurs wieder aufgegriffen und fortgesetzt, der bereits in der Periode von 1945 bis 1949 die Deutungshoheit erlangte und lange Zeit alle Versuche verhinderte, eine Antwort auf die Frage nach den Tätern mit der Aufarbeitung des Geschehens der Jahre 1944–1945 zu verbinden, wie das geradezu beispielhaft István Bibó mit seiner Analyse „Zur Judenfrage am Beispiel Ungarns nach 1944“, erstmals publiziert 1946 (in deutscher Übersetzung 1990), unternommen hatte. Doch zwischen der unmittelbaren Nachkriegsperiode und der nach 1989 bestehen auch Unterschiede. Tony Judt hat mit Blick auf ganz Europa darauf hingewiesen, dass ohne den auch von Fritz hervorgehobenen Schlussstrich unter die Vergangenheit vor 1945 und die damit verbundene kollektive Amnesie ein Neuanfang nach dem Krieg in den meisten Ländern nicht möglich gewesen wäre. Beinahe ein halbes Jahrhundert nach Krieg, Holocaust und der Periode des Einparteienstaates sind jedoch die Ausgangspositionen für eine Aufarbeitung der Vergangenheit grundlegend ganz andere. Die Auseinandersetzung mit dem Erbe des kommunistischen Regimes erhielt nun den uneingeschränkten Vorrang, und der Holocaust wurde nur insoweit einbezogen, als er als Referenzpunkt in der Aufrechnung der Leiden des ungarischen Volkes diente, wodurch das Ausmaß der nationalsozialistischen Judenvernichtung in Ungarn mit den Opfern des Landes im Zweiten Weltkrieg und während der kommunistischen Herrschaft auf eine Stufe gestellt wurde (S. 283). Als ein weiterer Referenzpunkt gewann und gewinnt bis heute die Horthy-Ära der Jahre 1919 bis 1944 immer mehr an Gewicht. Ihre geschichtspolitische Rehabilitierung und Aufwertung setzte bereits unter der Regierung Antall ein, auch wenn dieser selbst nicht eine Gleichsetzung der Opfer und eine Relativierung des Holocaust beabsichtigte, sondern sich um eine Integration der Holocaust-Erinnerung in die ungarische Erinnerungskultur bemühte (S. 285). Die ihm folgenden sozialliberalen Regierungen setzten diese Linie fort, wenn beispielsweise der Ministerpräsident Gyula Horn anlässlich der Gedenkfeiern zum 50. Jahrestag des Holocaust betonte, dass die Ermordung der ungarischen Juden erst durch die Kollaboration vieler Ungarn und ungarischer Institutionen mit den Nationalsozialisten möglich wurde. Doch die 1998–2002 amtierende Orbán-Regierung setzte geschichtspolitische Akzente, die in eine ganz andere Richtung wiesen. Sie installierte einen nationalungarischen Opferdiskurs, der die ungarische Geschichte als eine Abfolge historischer Katastrophen interpretierte. Wie Fritz zeigt, war die Thematisierung des Holocaust in seiner Regierungszeit in erster Linie von internationalen Initiativen und Entwicklungen abhängig, die auch zum Beschluss der Einrichtung eines Holocaust-Gedenkzentrums führten, das sodann 2004 eröffnet wurde. Dessen ungeachtet ist die bis heute andauernde, den Holocaust betreffende Amnesie der ungarischen Gesellschaft in direktem Zusammenhang zu bringen mit dem von Fritz geschilderten geschichtspolitischen Bemühen des nationalkonservativen, von Orbán angeführten Teils der politischen Elite um eine nationale Identitätsbildung, die Ungarn zu einer christlichen Nation erklärt, es mit dem Symbol der im Parlament ausgestellten Heiligen Krone mystifiziert und Juden, ob assimiliert oder nicht, aus einer solchen Nation von vornherein ausschließt – nachzulesen in der Präambel der am 25. April 2011 verabschiedeten Verfassung. Dieser Akt der Diskriminierung gewährt jeglichem Antisemitismus einen Freiraum, der von den rechtsextremen Kräften der ungarischen Politik ihren xenophoben Zielsetzungen entsprechend genützt wird. Auch wenn die Monographie von Fritz die Periode von 1945 bis 1949 zum Schwerpunkt hat, und für diese eine Fülle neuer Fakten und Einsichten bereitstellt, so gilt das auch für die Perioden danach. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass die Autorin nicht nur die thematisch breit gestreute Literatur herangezogen, sondern auch umfangreiches Archivmaterial aus dem Ungarischen Staatsarchiv, dem Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste, dem Ungarischen Jüdischen Archiv und anderen Dokumentensammlungen sowie die wichtigsten Zeitungen akribisch ausgewertet hat. Methodisch gesehen hätte eine schärfere, theoriegeleitete Abgrenzung der Wirkungsbereiche von Politik, nationaler Erinnerungskultur und Historiographie die Aussagekraft der Arbeit sicherlich verstärkt, zumal viele in der Arbeit hervorgehobenen Zitate und Erkenntnisse ungarischer Wissenschaftler, nicht nur Historiker, deutlich machen, dass die wechselseitigen Interferenzen doch wesentlich stärker zu bewerten sind, als aus der Arbeit selbst hervorgeht. Dennoch ist diese Monographie als ein wichtiger, ja wertvoller Baustein der Forschung über die ungarische Geschichtspolitik seit 1945 zu bewerten.

Gerhard Seewann, Pécs/München

Zitierweise: Gerhard Seewann über: Regina Fritz: Nach Krieg und Judenmord. Ungarns Geschichtspolitik seit 1944. Göttingen: Wallstein, 2012. 364 S. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 7. ISBN: 978-3-8353-1058-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Seewann_Fritz_Nach_Krieg_und_Judenmord.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Gerhard Seewann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.