Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Schwartz

 

Slava Gerovitch: Voices of the Soviet Space Program. Cosmonauts, Soldiers, and Engineers who took the USSR into Space. New York: Palgrave Macmillan, 2014. XIV, 305 S., zahlr. Abb. = Palgrave Studies in the History of Science and Technology. ISBN: 978-1-137-48178-8.

Slava Gerovitch ist einer der wenigen Wissenschaftshistoriker, der in der Nachfolge von Loren R. Graham am Massachusetts Institute of Technology im Bereich der sowjetischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung in den letzten Jahren Pionierarbeit leistete, indem er innovative Forschungsfragen und akribische Recherche mit neueren kulturwissenschaftlich und wissenschaftstheoretisch inspirierten Ansätzen verbunden hat. Grundlegend war seine 2002 in Cambridge, MA, erschienene Studie zur sowjetischen Kybernetik From Newspeak to Cyberspeak. A History of Soviet Cybernetics, die die Genese dieses damals neuen interdisziplinären Wissenschaftszweiges in einem breiten kulturpolitischen Kontext der post-stalinistischen Sowjetunion verortete. In den letzten mehr als zehn Jahren hat Gerovitch sich intensiv mit der sowjetischen Raumfahrt befasst, wobei er neben Asif Siddiqi wesentlich dazu beigetragen hat, Licht in das von Mythen und Legenden, Geheimhaltung und Heldenkult ummantelte sowjetische Weltraumprogramm zu bringen. Hierzu hat er eine Reihe von wegweisenden Studien vorgelegt, die sich der Rolle der am Raumfahrtprogramm beteiligten militärischen, politischen und wissenschaftlichen Akteure und Institutionen, dem Verhältnis von Mensch und Maschine, von Automatisierung, Steuerungssystemen und menschlicher Eigenverantwortung, Innovation und Sicherheit in der Raumfahrt, aber auch den offiziellen Propagandalügen und inoffiziellen Gerüchten, gestörten Kommunikationswegen und internen Konkurrenzen zwischen Politikern, Wissenschaftlern, Militärs, Geheimdienstlern, Ingenieuren und Kosmonauten widmen. Sie sind in überarbeiteter Form in dem 2015 in Pittsburgh publizierten Band Soviet Space Mythologies. Public Images, Private Memories, and the Making of a Cultural Identity erschienen.

Der vorliegende Band stellt einen weiteren Aspekt von Gerovitchs Arbeiten in diesem Bereich dar – und zwar eine Zusammenstellung von insgesamt 13 Interviews, die er mit am sowjetischen Weltraumprogramm beteiligten Zeitzeugen in Russland und den USA zwischen 2002 und 2011 persönlich, am Telefon oder via E-Mail geführt hat. Sie sind in drei Abschnitte eingeteilt. Der erste Teil stellt zwei aus dem Militärapparat kommende „Soldaten“ (so die Titelüberschrift des Abschnitts) vor, den in leitender Funktion nach dem Krieg an der Demontage deutscher Raketentechnologie beteiligten Offizier Abram Krajzman sowie den Bauingenieur Sergej Safro, der den absoluter Geheimhaltung unterliegenden Bau der ersten Weltraumbahnhöfe in Bajkonur und Krasnojarsk leitete. Im zweiten Teil des Buches kommen dann sechs „Ingenieure“ zu Wort: Der Motorenkonstrukteur Antatolij Daron, der unmittelbar an der Weiterentwicklung deutscher Raketentriebwerke mitarbeitete; Sergej Chruščev, prominenter Exilant und Sohn des Parteisekretärs Nikita Chruščev, der seinerzeit als Planer von Kontrollsystemen in einem der zuständigen Ingenieurbüros wirkte; Georgij Priss, einer der führenden Entwickler von Steuerungssystemen in den Weltraumraketen; der Radiotechniker Feliks Meščanskij, der mit der Entwicklung der Kommunikationssysteme zwischen Raumschiff und Erde befasst war; Jurij Tjapčenko, der als Elektroingenieur am Design der Steuerungsgeräte im Raumschiff mitwirkte; sowie der Computerkonstrukteur Viktor Pržjalkovskij, der sich mit der Automatisierung des Raumschiffs und mit Bordcomputern beschäftigte. Der dritte Buchabschnitt ist schließlich den „Kosmonauten“ selber gewidmet, von denen allerdings lediglich der erste Interviewpartner – Vladimir Šatalov – als „Kosmonaut Nr. 13“ 1969 und 1971 insgesamt drei Mal bei Sojus-Missionen im Weltraum gewesen ist. Bei den übrigen handelt es sich um drei Reserve-Kosmonauten – Michail Burdaev, Ordinard Kolomijcev und Valentina Ponomareva –, die nie zum Einsatz kamen, sowie die für die psychologische Betreuung der Kosmonauten zuständig gewesene Psychiaterin Ada Ordjanskaja.

Diese auch von der Länge her sehr unterschiedlichen Interviews (das kürzeste umfasst gerade mal drei, das längste mehr als 30 Buchseiten) vermitteln ein äußerst aufschlussreiches Bild von den Problemen und Konflikten hinter der schönen Fassade, bzw. – in den Worten von Slava Gerovitch – „they present the human face of the Soviet space program – not the glossy smile of well-groomed cosmonaut heroes, but the deep wrinkles on the sunburned face of the military, the gray hair of engineers burdened with anxiety over a failed launch, and the tired, but hopeful smile of a cosmonaut trainee after another day of exhausting tests, waiting patiently for a mission assignment that may or may not happen.“ (S. 15) Dabei sind sie wissenschafts- und kulturgeschichtlich vor allem auf zwei Ebenen von größerem Interesse.

Zum einen geben sie Auskunft über ein wissenschaftlich-militärisches Gebiet, wo immer noch ein Großteil der Archive für die Forschung verschlossen ist, so dass Erinnerungen oder eben solche Oral Histories in vielen Fällen die einzige zugängliche Quelle bleiben. Dies betrifft vor allem die Frage nach den intrinsischen Gründen und wissenschaftlich-organisatorischen Grundlagen für die frühen Erfolge des sowjetischen Raumfahrtprogramms Ende der 1950er Jahre sowie für dessen Stagnation seit spätestens Mitte der 1960er Jahre und das „Scheitern“ beim Wettlauf zum Mond gegenüber dem US-amerikanischen Konkurrenten. Zum anderen aber eröffnen die Gespräche einen einzigartigen Einblick in die wissenschaftliche Community des sowjetischen Weltraumprogramms, in deren Alltagspraktiken und Gruppenidentitäten, Legitimationsnarrative und Distinktionsgesten unter den Bedingungen massiver staatlicher Kontrolle und Regulierung, konnte doch ein Großteil der beteiligten Wissenschaftler und Militärs niemals in der Öffentlichkeit auftreten, während  die Kosmonauten und offizielle Repräsentanten sich an extrem normierte und kodierte Sprachregelungen zu halten hatten. Die Interviews offenbaren aber auch, wie sich in den nichtöffentlichen Diskursen und im professionellen Habitus ein elitäres Selbstverständnis formierte, das nicht nur in der älteren Generation noch massiv vom Berufsethos der späten Stalinzeit, patriarchalen Geschlechtervorstellungen und einem deutlich erkennbaren Antisemitismus geprägt war.

Slava Gerovitch hebt in seiner klugen Einführung zu den Interviews einige theoretische Implikationen solch einer Oral History hervor, die vielschichtige Perspektiven individueller Erinnerungspraktiken sichtbar mache im Unterschied zu den häufig auf das kollektive nationale Gedächtnis fokussierten Memory Studies. Biographische, professionelle oder ideologische Dispositive prägten diese Erzählungen genauso wie bspw. nostalgische Verklärungen der sowjetischen Vergangenheit. Allerdings merkt man den Gesprächen an, dass sie nicht so sehr in Hinsicht auf das individuelle Akteursverständnis hin geführt worden sind, sondern im Zuge von Gerovitchs wissenschaftshistorischen Studien, so dass die meisten Fragen auf wissenschaftliche, technische, organisatorische, alltagspraktische und personelle Hintergründe, Zusammenhänge und Fakten zielen, er also die gängigen Methoden der Oral History gerade nicht zur Anwendung bringt, sondern mit seinen Fragen schon Richtung und Horizont der Antworten präformiert. Assoziative Freiräume eröffnen sich nur gelegentlich, und das ganze kulturelle Imaginäre der Raumfahrt (seien es philosophische Spekulationen, Science Fiction oder sowjetische Alltagskultur) bleibt weitgehend ausgespart.

Dessen ungeachtet macht der Band dank der Einführung, den Kurzzusammenfassungen und biographischen Skizzen vor jedem Interview sowie einem detaillierten Anmerkungsapparat, einem Index und einer konzisen Auswahlbibliographie (die jedoch lediglich russisch- und englischsprachige Titel enthält) den Inhalt der Gespräche auch für interessierte Laien gut nachvollziehbar und eröffnet zugleich einen breiten Fragehorizont, in dem diese situiert werden können. Für Raumfahrtexperten bieten die Gespräche – nicht zuletzt aufgrund von Gerovitchs eigenen Publikationen – vielleicht inhaltlich kaum Neues, sie lassen aber erstmals im Englischen die Experten auch aus der zweiten Reihe zu Wort kommen und verweisen damit nachdrücklich darauf, dass eine Oral History des sowjetischen Raumfahrtprogramms noch aussteht und geleistet werden sollte, solange die beteiligten Zeitzeugen noch in der Lage sind, ihre „Stimmen“ erheben zu können.

Matthias Schwartz, Berlin

Zitierweise: Matthias Schwartz über: Slava Gerovitch: Voices of the Soviet Space Program. Cosmonauts, Soldiers, and Engineers who took the USSR into Space. New York: Palgrave Macmillan, 2014. XIV, 305 S., zahlr. Abb. = Palgrave Studies in the History of Science and Technology. ISBN: 978-1-137-48178-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schwartz_Gerovitch_Voices_of_the_Soviet_Space_Program.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2017 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Matthias Schwartz. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.