Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Felix Schnell

 

Martin Krispin: „Für ein freies Russland …“. Die Bauernaufstände in den Gouvernements Tambov und Tjumen 1920–1922. Heidelberg: Winter, 2010, 493 S. = Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, 19. ISBN: 978-3-8253-5785-6.

Der Aufstand gegen die Herrschaft der Bol’ševiki in Tambov ist ein locus classicus der Forschung zur frühsowjetischen Zeit und lag lange unter dem Schleier archivalischer Unzugänglichkeit. Spätestens seit der Veröffentlichung vieler Dokumente im Rahmen der von Danilov herausgegebenen „Krest’janskaja Revoljucija“ sowie der Monographie von Eric Landis aus dem Jahre 2008 können wir uns von dem Aufstand in Tambov aber ein recht klares Bild machen. Landis beschreibt die Ereignisse als eine mal engere, mal lockerere Schicksalsgemeinschaft einer zwischen Banditen- und Partisanentum changierenden Kampfgruppe unter Aleksandr Antonov sowie einer gegen Getreiderequirierungen und Zwangsrekrutierung gerichteten bäuerlichen Massenbewegung, die regional verwurzelt und auf die Region beschränkt war.

Martin Krispin wartet demgegenüber mit einer ganz anderen Interpretation auf und stellt die Aufstandsbewegung in einen größeren Kontext, indem er sie mit derjenigen im sibirischen Tjumen’ vergleicht. Beide Regionen gleichen sich darin, dass sie in der spätzarischen Zeit relativ stark in überregionale ökonomische Strukturen verflochten und ihre Bauern keine „Hinterwäldler“ waren, deren Horizont nicht über das nächste Dorf hinausreichte. Aufgrund ihrer ökonomischen Bedeutung waren sie überdies beide einem besonders energischen Zugriff der Bol’ševiki ausgesetzt.

Davon ausgehend versucht Krispin nun zu zeigen, dass die Bauern von Tambov und Tjumen’ ein über ihre unmittelbaren Lebenswelten hinausgehendes soziales und politisches Bewusstsein hatten und sie auf die Umwälzungen durch Krieg und Revolution mit der Entwicklung eigener Agenden reagierten, in denen politische und ökonomische Freiheit eine zentrale Rolle spielten. Man könnte auch sagen: Bauern waren auf ihre Art Träger einer Zivilgesellschaft in statu nascendi und die Aufstände von Tambov und Tjumen’ sehr viel mehr als reine Abwehrreaktionen auf äußere Zudringlichkeiten. Sie waren Manifestationen einer anderen, womöglich besseren russischen Zukunft, die von den Bol’ševiki mit brutaler Gewalt unterdrückt wurde.

Nun ist es nicht ganz neu, in den russischen Bauern mehr als Troglodyten zu sehen und die Entstehung zivilgesellschaftlicher Elemente auch im ländlichen Raum zu diagnostizieren – Jane Burbank, Franziska Schedewie oder Walter Sperling haben unser Bild von den Bauern in den letzten Jahren um einige Facetten erweitert. Der Bürgerkrieg galt bislang aber eher als Zeit, in der die bäuerliche Gesellschaft auf elementarere Dinge zurückgeworfen wurde. Und während der Aufstand in Tjumen’ kaum bekannt war, stand der Aufstand in Tambov zumeist im Schatten der schillernden Figur Aleksandr Antonovs.

Nicht nur hinsichtlich der Bauern hat Krispin eine andere Interpretation anzubieten – auch in Antonov sieht er weit mehr einen politisch motivierten Akteur, der gleichwohl nicht einfach den Sozialrevolutionären zuzurechnen sei, sondern in der revolutionären Situation sein eigenes, den Bedürfnissen der Bauern angepasstes politisches Programm entwickelte. Wenn Landis in der Verbindung der Bauern mit Antonov eher ein aus der Not geborenes Bündnis sah, das den Banditen Antonov erst in einen charismatischen Bauernführer verwandelte, so betont Krispin ein originäres Vertrauensverhältnis mit den Bauern, wie es in der Ukraine auch im Falle Nestor Machnos festzustellen war. Dass in Tjumen’ ein solches Gesicht des Aufstandes fehlte, wäre vielleicht ein paar Worte Wert gewesen, aber Krispin interessiert sich in erster Linie für die Gemeinsamkeiten und nicht für störende Unterschiede. Überhaupt zeichnet sich die Darstellung durch eine regelrechte Widerlegungswut aus und macht im Großen und Ganzen den Eindruck cum ira et studio geschrieben worden zu sein. So ist nicht immer klar, nach welchen Kriterien Aussagen in Čeka-Berichten Glauben geschenkt oder sie verworfen werden. Man kann den Eindruck haben, dass allzu leicht beiseite gewischt wird, was der These einer politisch bewussten und programmatischen Bauernschaft widerspricht. Es ist natürlich das gute Recht jedes Autoren, nach Belegen für seine Thesen zu suchen, aber Krispin verfährt in eigener Sache doch sehr großzügig. Dafür nur ein paar Beispiele:

Die Liste könnte verlängert werden. Krispins Anliegen, politischem Bewusstsein, Horizont und Programmatik der Bauern mehr Gewicht und Aufmerksamkeit zu verschaffen und die Bauern weniger als fortschrittsfeindliche Ludditen denn als Akteure mit staatlichen Visionen zu sehen, mag vieles für sich haben. Aber Begriffe wie „demokratisch“ oder „rechtsstaatlich“ gehen dem Autor doch etwas leicht von der Hand, und die ebenso bemühte wie apodiktische Art der Argumentation wirft mehr Fragen auf, als sie vermeintlich beantwortet. Nichtsdestoweniger werden vermutlich viele, die Martin Krispins Buch lesen, die Aufstände in Tambov und Tjumen’ fortan in einem etwas anderen Licht sehen. Da ist vermutlich doch mehr, als viele bislang dachten, den Rezensenten eingeschlossen. Es stellt sich nur die Frage, was. Unsere Wissenschaft lebt von streitbaren Beiträgen und deshalb wäre es schön, wenn Krispins Thesen weiter diskutiert würden.

Felix Schnell, Berlin

Zitierweise: Felix Schnell über: Martin Krispin: „Für ein freies Russland …“. Die Bauernaufstände in den Gouvernements Tambov und Tjumen 1920–1922. Heidelberg: Winter, 2010, 493 S. = Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte, 19. ISBN: 978-3-8253-5785-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schnell_Krispin_Fuer_ein_freies_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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