Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Marina Vituchnovskaja-Kauppala: Finskij sud vs „černaja sotnja“. Rassledovanie ubijstva Michaila Gercenštejna i sud nad ego ubijcami (1906–1909). S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo universiteta, 2015. 220 S., 45 Abb. ISBN: 978-5-94380-185-3.

Die Verfasserin ist habilitierte Historikerin und Dozentin an der Universität Helsinki. Sie befasst sich vorrangig mit den russisch-finnischen Beziehungen und der imperialen Politik Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Am 18. Juli (a.St.) / 31. Juli (n.St.) 1906 wurde im damals finnischen Kurort Terijoki (heute die Stadt Zelenogorsk in Russland) der Moskauer Universitätsprofessor und vormalige Duma-Abgeordnete Michail Gercenštejn gegen 21.00 Uhr hinterrücks ermordet. Zwei Schüsse in den Rücken streckten ihn nieder, als er sich im Kreise seiner Familie auf einem Abendspaziergang befand, wobei eine seiner beiden Töchter zusätzlich eine Schussverletzung an der Hand erlitt. Dieser heimtückische Mord schreckte das ganze liberale Russland auf, und die Parteifreunde Gercenštejns von den „Konstitutionellen Demokraten“ (Kadetten) taten unter Ausnutzung ihrer Vernetzungen in russische Justizkreise viel dafür, dass man gegen den heftigen Widerstand russischer Geheimpolizei- und Polizeibehörden sowie höchster Regierungskreise die Mörder und deren geistige Hintermänner ermitteln und verurteilen konnte. Als günstig erwies sich hierbei, dass der Mord auf dem Boden des autonomen, mit Russland nur durch eine Personalunion verbundenen Großfürstentums Finnland erfolgte. Die unabhängige finnische Justiz wehrte von 1906 bis 1909 erfolgreich aller Vertuschungs- und Verschleierungsversuche russischer Behörden ab und erreichte letztlich nach 20 Gerichtssitzungen im Jahr 1909 die Verurteilung aller damals noch lebenden Tatbeteiligten. Dabei ergab sich, dass die russische Geheimpolizei durch angestrengtes Wegschauen maßgeblich in den Mord verstrickt war und der erzreaktionäre „Sojuz Russkogo Naroda“ (SRN bzw. „Bund des russischen Volkes“ alias „Schwarzhunderter“) 1906 sogenannte Kampfabteilungen bildete, welche mittels gedungener Mörder politisch missliebige Personen aus dem Weg räumen sollten. Die Bandbreite möglicher Opfer reichte dabei vom Kadettenführer Professor Miljukov bis hin zum Ex-Finanzminister Graf Vitte. Der einer jüdischen Familie entstammende, 1859 in der Stadt Vosnesensk im Chersoner Gebiet geborene Michail Gercenštejn (bis zum Übertritt zur  russisch-orthodoxen Religion „Meir-Šovel’ Gercenštejn“) war eines der ersten Opfer. Weil er sich während seines Rechtsstudiums mit dem preußischen Staatssozialisten Karl Rodbertus-Jagetzow und der deutschen Agrargesetzgebung befasste und später eine Revolutionärin russisch-ukrainischer Herkunft ehelichte, galt er fälschlicherweise als Sozialist, obwohl ihn nur rein wissenschaftliche Interessen mit den Problemen von Agrargesetzgebung und Agrarreform verbanden. Hinzu kam seine jüdische Herkunft, welche bis 1903 verhinderte, dass er sich als Universitätsdozent an der Moskauer Universität betätigen konnte, und zusätzlich bedingte, dass er seinen Lebensunterhalt als Agrarexperte für russische Banken verdiente. Erst im Zuge der Liberalisierung der russischen Universitäten und durch einen Glaubenswechsel konnte er wenige Jahre vor seiner Ermordung den ersehnten Universitätslehrstuhl in Moskau erringen. Für die Kadetten wurde er am 27. April 1906 in die erste, nur 72 Tage existierende Duma gewählt. Hier war er gemäß seinen Fachkenntnissen maßgeblich an der Tätigkeit der Budget-, Finanz- und Agrarkommission beteiligt und verdiente sich so den Hass stockreaktionärer, chauvinistischer Kreise in Russland. Als die Duma aufgelöst wurde, trafen sich rund 200 Duma-Abgeordnete auf finnischem Boden im Dorfe Terijoki, wohin der Arm des Zaren nicht direkt reichte. Kurz nach den dortigen, dreitägigen Verhandlungen vom 13. bis 15. Juli 1906 erfolgte mitten aus heiterem Himmel der politische Mord am seinerzeit sehr bekannten Professor Gercenštejn. Als Ausführer der Tat erwiesen sich nach den Erkenntnissen der in Finnland von 1907 bis 1909 geführten Gerichtsverhandlung der Arbeiter Egor Laryškin und der Schmied Aleksandr Kazancev. Sie für den Mord angeworben und ihre Tat begleitet hatte der führende SRN-Funktionär Nikolaj Juskevič-Kraskovskij, während der Präsident des SRN Dr. Aleksandr Dubrovin in den ganzen Vorgang eingeweiht war und ihn billigte. In Finnland konnten im August 1909 allerdings nur Laryškin und Juskevič-Kraskovskij, ersterer wegen Beihilfe und letzterer wegen Anstiftung zum Mord, zu jeweils 6 Jahren Haft verurteilt werden. Beide wurden nur kurz darauf vom Zaren begnadigt. Kazancev, auf den beide Beschuldigten den eigentlichen Mord abschoben, konnte sich nicht mehr dagegen verteidigen, weil ihn russische Sozialdemokraten bereits früher als sogenannten „Provokateur“ ermordeten. Auch Laryškin überlebte eine weitere, wegen eines anderen Mordes über ihn verhängte Gefängnishaft in Petersburg nicht, weil  ihn im Gefängnis das gleiche Schicksal ereilte. Juskevič-Kraskovskij wurde während der Russischen Revolution im August 1917 verhaftet und ist seitdem verschollen. Den vormaligen SRN-Präsidenten Dr. Dubrovin ereilte sein Schicksal im April 1921. Nach der Verhaftung durch die Tscheka erschoss man ihn ohne Prozess. Von Michail Gercenštejn leben keine direkten Nachkommen mehr. Seine Witwe und die beiden Töchter emigrierten im Laufe des Russischen Bürgerkriegs in die Slowakei, wo sie, zuletzt die Tochter Anna im Jahr 1985, verstarben. Die Untersuchung von Marina Vituchnovskaja-Kauppala gleicht einem spannenden Kriminalroman, der leider keine Fiktion, sondern reale historische Tatsachen beinhaltet. Am Ende des Buches befindet sich ein Anhang mit einigen wichtigen Dokumenten zum Mordfall Gercenštejn.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Marina Vituchnovskaja-Kauppala: Finskij sud vs "černaja sotnja". Rassledovanie ubijstva Michaila Gercenštejna i sud nad ego ubijcami (1906–1909). S.-Peterburg: Izdat. Evropejskogo universiteta, 2015. 220 S., 45 Abb. ISBN: 978-5-94380-185-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schmidt_Vituchnovskaja-Kauppala_Finskij_sud.html (Datum des Seitenbesuchs)

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