Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jürgen W. Schmidt

 

Aleksandr Bastrykin: Ubijstvo S. M. Kirova. Novaja versija starogo prestuplenija. Moskva: Kapital, 2016. 208 S. ISBN: 978-5-9906979-9-7.

Was für die Amerikaner der Kennedy-Mord ist, das ist für die Russen der Mord an Kirov 1934. In beiden Fällen kam ein vergleichsweise beliebter Politiker durch einen geheimnisumwitterten Mord zu Tode, und in beiden Fällen hatte das spürbare politische Auswirkungen für das betreffende Land. Doch galt bislang der Mord an Kirov, im Gegensatz zum Kennedy-Mord, als zweifelsfrei geklärt. Demnach hätte ein kleiner Sowjetfunktionär namens Nikolaev den Leningrader Parteichef Sergej Kirov am 1. Dezember 1934 im Smolnyj aus Eifersucht erschossen, was Stalin zum Anlass für die großen politischen Säuberungen in der Sowjetunion nahm, ohne indessen den Mord angeregt oder gar inszeniert zu haben. Der maßgebliche Aufsatz zum Thema stammt vom russischen Historiker Ju. N. Šukov, trägt den Titel Untersuchung und Gerichtsprozesse zur Ermordung Kirovs und ist in Heft 2/2000 der Zeitschrift Voprosy istorii erschienen. Unter genau dem gleichen Titel gab Šukov bereits im Jahr 1999 ein Buch heraus.

Šukovs Ansichten hat nun ein namhafter russischer Kriminologe mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Tatortarbeit vehement bestritten. Aleksandr Bastrykin ist habilitierter Jurist, lehrt als Professor Kriminologie und weist eine Literaturliste mit 140 einschlägigen Veröffentlichungen auf. Er trägt staatliche Ehrentitel wie „Verdienter Jurist der Russländischen Föderation“ und „Ehrenvoller Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft der Russländischen Föderation“. Auf seine Bitte hin machte ihm der russische Geheimdienstchef Bortnikov die im FSB-Archiv aufbewahrte Morduntersuchungsakte Kirov, bestehend aus 58 Aktenbänden mit Befragungsprotokollen, Tatortskizzen, Leichenfotos und Sektionsgutachten zugänglich, die Bastrykin als erster Außenstehender einsehen und auswerten durfte. Bastrykin geht nach der intensiven Auswertung aller 58 Aktenbände – u. a. ließ er durch ihm befreundete Kriminalisten und Gerichtsmediziner Zweitgutachten erstellen – in seinem soeben in Moskau erschienenen Buch davon aus, dass das NKWD bei der Mordaufklärung 1934/35 zwar pfuschte, jedoch nichts bewusst vertuschte, als man den vorgeblichen Täter Nikolaev am Tatort mit dem sprichwörtlichen „rauchenden Colt“ in der Hand festnahm und sich dieser anschließend freiwillig der Tat bezichtigte. Deswegen kam man gar nicht auf die Idee, andere Spuren zu verfolgen, was Bastrykin zufolge ein häufiger Fehler von Untersuchungsbehörden bei der Aufklärung von Kriminalfällen ist.

Laut der bisherigen Version hat sich Nikolaev in den gut bewachten Leningrader Smol’nyj eingeschmuggelt. Dort habe er überaus erregt Kirov zur Rede gestellt und niedergeschossen. Dieser Tatablauf lässt sich Bastrykin zufolge allerdings weder mit den Spuren am Tatort, noch mit den Zeugenaussagen in Übereinstimmung bringen. Zudem deuten die Tatumstände darauf hin, dass Nikolaev zumindest Helfer, wenn nicht gar Mittäter hatte. Der Kriminologe hält es nämlich für keineswegs ausgeschlossen, dass der nervenkranke, im Waffengebrauch ungeübte Nikolaev sich fälschlich der Tat bezichtigte und der Mord von einer ganz anderen Person verübt wurde. Grundlage für seine Überlegungen sind eine Reihe bislang unbekannter Fakten, welche Bastrykin beim Aktenstudium auffielen. So entschied sich Kirov am Mordtag erst um 16.00 Uhr spontan dazu, den Smolny aufzusuchen, wo ihn trotzdem Nikolaev zeitgenau abpasste und in Wirklichkeit wortlos um 16.30 Uhr niederschoss. Nikolaevs rekonstruierter Tagesablauf weist exakt vor dem Mord eine Lücke von einer Stunde auf, die seinerzeit nicht gefüllt werden konnte und in welcher Zeit Bastrykin einen möglichen Kontakt mit einem Informanten vermutet. Selbst der konkrete Tatablauf ist gemäß Bastrykin unklar, weil es, entgegen allen bisherigen Annahmen, zwar einige „Ohrenzeugen“ der beiden Schüsse, aber keinen einzigen Augenzeugen gab, von Nikolaev einmal abgesehen. Zudem bezweifelt Bastrykin, dass der kranke, zudem stark erregte Nikolaev in der Lage war, mit einem Nagan-Revolver auf mehrere Schritt Entfernung Kirov platziert ins Zentrum des Hinterkopfs zu schießen, was diesen sofort tötete. Immerhin brach Nikolaev unmittelbar nach der Tat körperlich zusammen und musste wegen seines schlechten Zustandes erst einmal fünf Stunden intensiv ärztlich betreut werden, bevor man ihn überhaupt verhören konnte. Außerdem konnte man nie klären, warum ein zweiter Schuss aus der Tatwaffe in die Korridordecke abgegeben wurde, denn der exzellent platzierte erste Schuss hatte ja Kirov auf der Stelle getötet. Nikolae konnte diesen zweiten Schuss seinerzeit nicht erklären, denn seinen Aussagen zufolge hat ihn sofort nach Abgabe des ersten Schusses ein (niemals ermittelter) „Mann in GPU-Uniform“ (Geheimpolizist) K.O. geschlagen. Ob der Schuss, welcher Kirov tötete, tatsächlich der erste Schuss aus der Tatwaffe war, bleibt folglich ebenso unklar, wie der zeitliche Abstand beider Schüsse. Einige Zeugen meinten nämlich, die Schüsse wären ganz kurz aufeinander erfolgt. Andere Zeugen glaubten sich an einen Abstand von wenigstens 30–60 Sekunden zu erinnern. Zwei völlig unterschiedliche Aussagen binnen kurzer Zeit lieferte ausgerechnet jener Zeuge, welcher als erster den Tatort erblickte. Es handelte sich um einen Haushandwerker, der anfangs nur angab, Kirov habe an jenem Moment schon unbeweglich am Boden gelegen, während Nikolaev, gerade ohnmächtig werdend, zu Boden glitt. Kurze Zeit darauf behauptete derselbe Zeuge, persönlich und todesmutig Nikolaev mit seinen Fäusten niedergeschlagen und ihm dabei den Revolver entrissen zu haben. Letzteres behaupteten später noch zwei ganz andere Zeugen von sich, so dass die Konfusion kein Ende nimmt.

Ebenso zerpflückt Bastrykin das Sektionsprotokoll der Leiche, wo man seinerzeit einen „Nahschuss“ in den Hinterkopf mit 45 Grad Steigungswinkel des Schusskanals nach oben festgestellt haben wollte, was deutlich auf den kleinwüchsigen Nikolaev als Täter hinwies. Gemäß Bastrykin erfolgte der Todesschuss jedoch keineswegs als Nahschuss, sondern aus größerer Entfernung. Der russische Kriminologe ist sich sicher, den Mord an Kirov selbst heute noch aufklären zu können. Dazu müsse man nur unter Aufsicht erfahrener Kriminalisten, Ballistikexperten und Gerichtsmediziner im Smolnyj die Ereignisse vom 1. Dezember 1934 im Experiment nachstellen. Obwohl sich Bastrykin bei den möglichen Mordmotiven und politischen Hintergründen ausgesprochen bedeckt hält – immerhin sei er kein Historiker oder Politologe –, gibt er nebenbei einen Hinweis. Kirovs damaliger Bürochef N. F. Svešnikov (1888–1969) habe nach dem Mord eine Delegierung zu einem prestigeträchtigen Studium erhalten und anschließend jahrzehntelang eine hohe Stellung in der sowjetischen Wirtschaftsbürokratie bekleidet. Es bleibt abzuwarten, wie die Reaktionen in Russland auf die aufsehenerregende These von Bastrykin ausfallen.

Jürgen W. Schmidt, Berlin

Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Aleksandr Bastrykin: Ubijstvo S. M. Kirova. Novaja versija starogo prestuplenija. Moskva: Kapital, 2016. 208 S. ISBN: 978-5-9906979-9-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schmidt_Bastrykin_Ubijstvo_S_M_Kirova.html (Datum des Seitenbesuchs)

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