Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Michael Schippan

 

Dmitrij Olegovič Serov: Sudebnaja reforma Petra I. Istoriko-pravovoe issledovanie [Die Gerichtsreform Peters I. Eine historisch-rechtliche Untersuchung]. Moskva: Zercalo-M, 2009. 488 S. ISBN: 978-5-94373-161-7.

Der Rechtshistoriker Dmitrij Olegovič Serov legt eine auf gedrucktem und handschriftlichem Material beruhende Darstellung über die Umgestaltungen Zar Peters I. auf dem Gebiet des Justizwesens vor. Er datiert die Gerichtsreform auf den Zeitraum von der Einrichtung des Justiz-Kollegiums 1717 bis zur Schaffung des Obersten Gerichts (Vysšij sud) 1723, das bis 1726 existierte. Am Ende des 17. Jahrhunderts hätten in Russland, Serov zufolge, die Missstände im Rechtswesen, etwa die Annahme von Bestechungsgeldern (vzjatki) durch Gerichtspersonen und die Verschleppung von Amtsangelegenheiten (volokita), derart zugenommen, dass eine schwerwiegende Krise eingetreten sei. Nur durch die Reformen Peters I. sei diese Krisis überwunden worden. Es ist allerdings zu fragen, ob das russische Gerichtswesen kollabiert wäre, wenn sich der Zar nach 1715, in einem relativ ‚ruhigen‘ Jahr des Nordischen Krieges (1700–1721), nicht für die Schaffung neuer Gerichtsinstanzen eingesetzt und ausländischen Vorbildern für Reformen zugewandt hätte? Sicher hatten die Zahl der zu untersuchenden Fälle und die Papierflut in den Gerichten in den Jahrzehnten nach dem Erlass des Uloženie von 1649 durch die quantitative Erweiterung des Systems der Zentralämter (prikazy), die allesamt Gerichtsfunktionen hatten, und die Durchsetzung der Verschriftlichung zugenommen. Nach dem Tod des Zaren wurden 1726 allerdings die Anregungen aus Schweden größtenteils wieder zurückgenommen und die Zahl der Ämter vermindert, ohne dass nachteilige Folgen für die Justiz im Russländischen Reich eingetreten wären.

Erkennbar wird die bedeutende Rolle des Militärs, insbesondere der Garde und der militärischen Gerichtsbarkeit, wenn Serov in Fortsetzung der Forschungen von M. V. Babič auf die Tätigkeit der nach 1713 geschaffenen, mit außerordentlichen Vollmachten ausgestatteten und von Gardeoffizieren geleiteten „Majorskanzleien“ eingeht. Das Fehlen von juristisch geschulten Zivilbeamten, wie sie in den lateinischen Ländern Europas seit Jahrhunderten an Universitäten herangebildet wurden, ließ im Gerichtswesen des Zarenreiches den Einsatz von aktiven und gedienten Militärs, der einzigen im Landesmaßstab organisierten Kraft, als geboten erscheinen. Die von Serov im Anschluss an die Forschungen von A. G. Man’kov untersuchte, von 1723 bis 1726 bestehende Kodifikations­kommission orientierte sich am schwedischen Vorbild. Doch gelangte sie ebenso wie die anderen Gesetzeskommissionen des 18. Jahrhunderts nicht zum Erfolg. Die ausländischen Anregungen erweisen sich als nicht anwendbar auf die russischen Verhältnisse.

Zar Peter nahm den ihm vor allem als Diplomat bekannten G. W. Leibniz in seinen Dienst im Range eines Geheimen Justizrates, der jedoch ebenso wenig wie der jetzt von S. Korzun in einer Biographie (Manuskript, Stuttgart 2012) untersuchte Heinrich von Huyssen (1666–1739, Autor des Projekts eines Fiskal-Kollegiums in Russland, 1713) Einfluss auf die Justizreformen nehmen konnte. Dmitrij Serov kennt nur einen Teil der ausländischen Literatur zum Thema. Nicht berücksichtigt wurde von ihm Ch. Schmidt Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft, 16491785 (Stuttgart 1996). In der Monographie des Rezensenten (M. Schippan Die Einrichtung der Kollegien in Russland unter Zar Peter I. Wiesbaden 1996) sind Angaben über das Justiz-Kollegium und das in ihm tätige Personal zu finden. Die von Serov aus den Monographien von A. R. Cederberg (1930) und C. Peterson (1979) entnommenen Informationen über den Hamburger Heinrich Fick (16781750), den wichtigsten Helfer des Zaren bei den Justizreformen, sind fehlerhaft. Heranzuziehen ist H. v. Hofmann Heinrich Fick und seine Ahnen, in: Baltische Hefte 4 (1958), S. 256259.

Wenn Dmitrij Serov in seinen Schlussbetrachtungen nahtlos von den Reformen im 18. Jahrhundert zum Strafverfahren und zur Organisation des Gerichtswesens in der Sowjetunion übergeht, so zeigt das zum einen, dass Kontinuitäten bei den Formen und Verfahrensweisen unübersehbar sind. Zum anderen wird allerdings auch das Desinteresse des Autors an den Unterschieden zwischen den Staats- und Gesellschaftsordnungen des 18. und des 20. Jahrhunderts erkennbar, auf die die Geschichtsschreibung in der Sowjetperiode größten Wert gelegt hatte. Der Autor meint zusammenfassend, dass die Umgestaltungen Zar Peters lediglich den Strafprozess, insbesondere die Möglichkeit der Revision von Gerichtsentscheidungen und die vorbereitenden Untersuchungen, betroffen hätten (vgl. S. 400). Damit gehörte das Gerichtswesen, so kann nach der Lektüre des Buches geurteilt werden, nicht zu den entscheidenden Bereichen, die in der petrinischen Ära grundlegend reformiert wurden. Das System der Justiz wurde nicht wesentlich verändert, und eine Kodifizierung des russischen Rechts unter Zuhilfenahme ausländischer Gesetzestexte konnte noch nicht gelingen.

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: dmitrij olegovič serov: Sudebnaja reforma Petra I. Istoriko-pravovoe issledovanie [Die Gerichtsreform Peters I. Eine historisch-rechtliche Untersuchung]. Moskva: Zercalo-M, 2009. 488 S. ISBN: 978-5-94373-161-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schippan_Serov_Sudebnaja_reforma.html (Datum des Seitenbesuchs)

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