Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Michael Schippan

 

Guzel’ V. Ibneeva: Putešestvija Ekateriny II. Opyt „osvoenija“ imperskogo prostranstva [Die Reisen Katharinas II. Die Erfahrung der „Aneignung“ des imperialen Raumes]. Kazan’: Kazanskij gosudarstvennyj universitet, 2006. 254 S., 47 Abb. ISBN: 5-98180-339-8.

Guzel’ V. Ibneeva: Imperskaja politika Ekateriny II v zerkale vencenosnych putešestvij [Die imperiale Politik Katharina II. im Spiegel der Herrscherreisen]. Moskva: Pamjatniki istoričeskoj mysli, 2009. 468 S., 13 Abb. ISBN: 978-5-88451-253-5.

Nach ihrer Thronbesteigung 1762 begann die Kaiserin Katharina II., sich ein genaueres Bild über das von ihr regierte Imperium zu verschaffen. Sie las dazu landeskundliche Arbeiten und beriet sich mit erfahrenen Beamten sowie Wissenschaftlern der St. Petersburger Akademie. Die Zarin prüfte die Berichte und Beschwerden, die aus verschiedenen Landesteilen eingesandt wurden. Schließlich unternahm sie ausgedehnte Reisen, um sich aus eigenem Augenschein von den Zuständen in ihrem Reich zu unterrichten. Guzel’ Vazychovna Ibneeva, die an der Staatlichen Universität Kazan’ in Forschung und Lehre tätig ist, beleuchtet in zwei Monographien vor allem den Besuch Katharinas in Liv- und Estland 1764, ihre Fahrt auf der Volga 1767 sowie die durch die „Potemkinschen Dörfer“ berühmt gewordene Reise auf die Krim 1787. In beiden ansprechend gestalteten Büchern werden Farbillustrationen sowie mehrere textbezogene Zeichnungen des in Riga tätigen Johann Christoph Brotze (17421823) wiedergegeben. Das Buch aus dem Jahr 2009 über die Bedeutung der Reisen für die kaiserliche „Imperiale Politik“ (dafür im Folgenden: IP) ist eine nicht nur vom Umfang her im Vergleich zu der Publikation von 2006 wesentlich erweiterte Bearbeitung des Themas. Es zeichnet sich vor allem durch neue Fragestellungen aus und beruht auf in Moskau, St. Petersburg, Kiev, Tartu und Riga sowie im Johann-Gottfried-Herder-Institut in Marburg eingesehenen Archivalien. Die Autorin, die in IP erstmals eine umfangreiche Charakteristik der Quellen und der Historiographie zur katharinäischen Ära einfügte, verarbeitete zahlreiche neuere Studien, darunter Arbeiten in deutscher Sprache (A. Kappeler, Ch. Kupffer, R. Bartlett, E. Donnert, I. Jürjo †, I. Schierle u. a.).

Während in dem Band von 2006 die Reisen als „Raum“ (prostranstvo) der Legitimation für die durch einen Staatsstreich zur Macht gelangte Kaiserin untersucht wird, entspricht die Analyse der „Imperialen Politik“ in IP einer gerade in Kazan’ (wo auch das Periodikum „Ab Imperio“ herausgegeben wird) seit einigen Jahren etablierten Forschungsrichtung. Neu ist, wie Guzel’ Ibneeva in ihren Monographien die Toleranzpolitik der Kaiserin gegenüber Vertretern fremder Religionen im Kontext der Reisen darstellt: gegenüber lutherischen Protestanten (1764), orthodoxen Altgläubigen, Mennoniten und Herrnhutern (1767), Muslimen und Juden (1767, 1787). Bei ihrem Streben nach Systematisierung, Zentralisierung und Unifizierung im Zarenreich hatte Katharina die spezifischen Bedingungen in den baltischen Provinzen Livland und Estland zu berücksichtigen, wohin 1764 ihre erste Reise führte. Die zumeist deutschsprachigen Angehörigen der Ritterschaft und die Korporationen der Bürgerschaften Revals und Rigas bereiteten ihr einen festlichen Empfang, den die Autorin auf der Grundlage zeitgenössischer Berichte beschreibt. Wie schon unter Peter I. wurden auch zu Beginn der Regierungszeit Katharinas die baltischen Provinzen als „Versuchsländer“ für Reformprojekte in Russland betrachtet. Über ihren Beauftragten, Generalgouverneur George Browne (16981792), suchte die Monarchin, die Interessen der Zentralgewalt gegenüber den Ständen der Provinzen durchzusetzen. Sie wollte adlige Willkür einschränken und – auf Vorschlag Brownes - den leibeigenen Bauern Eigentumsrechte zuerkennen. Guzel’ Ibneeva zieht die in Marburg aufbewahrten Akten des Landtags von 1765 heran und interpretiert den Landtagsbeschluss dieses Jahres als Erfolg der pragmatischen Politik der Kaiserin. Erstmals geht die Autorin näher auf Johann Gottfried Herders anlässlich der Eröffnung eines neuen Gerichtsgebäudes in Riga verfasste Frühschrift „Haben wir noch jetzt das Publikum und Vaterland der Alten?“ (1765) ein.

Während ihrer Flussfahrt auf der Volga nach Kazan’, der nächsten größeren Reise, übersetzte Katharina 1767 mit ihren Kavalieren den in Paris von der Zensur verbotenen Staatsroman „Bélisaire“ von J.-F. Marmontel, mit dem sie ihren Untertanen das Beispiel des vorbildlichen Dienstes eines Patrioten am Staat liefern wollte. Die Kaiserin gewann erstmals einen Eindruck von der ethnischen und religiösen Vielgestaltigkeit im Osten und Süden des Imperiums (vgl. G. Ibneyeva, Catherine Discovers the Volga Region, in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 [2008], H. 3, S. 349357). Ihre Begegnungen mit den an der Mittleren Volga lebenden orthodoxen Altgläubigen wie auch mit den muslimischen Tataren von Kazan’ hatten eine Abkehr von der unter Elizaveta Petrovna noch forcierten Politik der gewaltsamen Missionierung und eine tolerante Duldung dieser Glaubensrichtungen zur Folge. Durch ihre Kenntnisse des Tatarischen kann Guzel’ Ibneeva spezielle Literatur in dieser Sprache über die Volga-Tataren nutzen. Gegenüber den Oberschichten der als Kirgiz-Kajsaken bezeichneten kasachischen Stammesverbände, zu denen die Herrscherin A. A. Putjatin als Gesandten schickte, wandte Katharina eine Politik der Bestechung an, um das Reichsterritorium gegenüber Einfällen nomadisierender Stämme abzusichern. Ihre schon häufig beschriebene Krimreise 1787 nahm durch den betriebenen Aufwand eine Sonderstellung ein. Die auf ihr demonstrierte militärische Machtentfaltung provozierte allerdings das Osmanische Reich zur Eröffnung eines neuen Krieges gegen Russland. Die Autorin vergleicht die sorgfältig inszenierten Prunkzüge Katharinas II. sowohl mit den vor allem militärischen Zwecken dienenden Besuchen Peters I. in verschiedenen Teilen seines Reiches, als auch mit den Inspektionsreisen Friedrichs II. von Preußen zu Garnisonen und Festungen sowie den Kurzvisiten des nur mit wenigen Begleitern durch das Habsburger Imperium und weitere europäische Länder eilenden Kaisers Joseph II. Die zahlreichen Vergleiche der Politik Katharinas II. und der zu ihrer Legitimation herangezogenen Doktrinen („gemeines Wohl“,. „wohlgeordnete Policey“) mit gleichzeitigen Erscheinungen in anderen europäischen Ländern sind ein besonders hervorstechender Vorzug der Arbeiten Guzel’ Ibneevas. Sie beschreibt nicht nur die Reisen der Herrscherin und ihre Stationen, was schon einen besonderen Beitrag zu den in den letzten Jahrzehnten stark angewachsenen interdisziplinären Forschungen zur „historischen Reiseliteratur“ darstellt, sondern beteiligt sich auch mit quellenfundierten Studien an einer seit dem Katharina-Jubiläum von 1996 (200. Todestag) geführten internationalen Diskussion, die zu einer Neubewertung der Persönlichkeit und der Politik dieser einzigen als „Groß“ titulierten Monarchin führte.

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: Guzel’ V. Ibneeva: Putešestvija Ekateriny II. Opyt „osvoenija“ imperskogo prostranstva [Die Reisen Katharinas II. Die Erfahrung der „Aneignung“ des imperialen Raumes]. Kazan’: Kazanskij gosudarstvennyj universitet, 2006. 254 S., 47 Abb. ISBN: 5-98180-339-8.Guzel’ V. Ibneeva: Imperskaja politika Ekateriny II v zerkale vencenosnych putešestvij [Die imperiale Politik Katharina II. im Spiegel der Herrscherreisen]. Moskva: Pamjatniki istoričeskoj mysli, 2009. 468 S., 13 Abb. ISBN: 978-5-88451-253-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schippan_SR_Ibneeva_Reisen Ekaterinas_II.html (Datum des Seitenbesuchs)

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