Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Michael Schippan

 

Russkie knigi iz biblioteki Imperatorskogo Carskoselskogo (Aleksandrovskogo) liceja v Ekaterinburge. T. 1: Otečestvennye izdanija, opublikovannye do 1830 g., iz sobranija Otdela redkich knig Zonalnoj naučnoj biblioteki Uralskogo federalnogo universiteta. Sost. O. S. Arkatova / O. S. Kravčenko / L. Ė. Petrova / dr. Otv. red. O. M. Kadočigova. Ekaterinburg: Izdat. Uralskogo universiteta, 2015, 606 S., 11 Abb. ISBN: 978-5-7996-1545-1.

Im Jahr 1811 wurde auf Initiative des Staatsreformers Michail Speranskij in der südlich von St. Petersburg gelegenen zarischen Sommerresidenz Carskoe Selo (bis 1937 Detskoe Selo, danach Puškin) ein Lyzeum eröffnet, um loyale Staatsdiener heranzubilden, die anschließend Schlüsselposten in der Verwaltung übernehmen sollten. Zu den bekanntesten Zöglingen dieser Lehreinrichtung im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens zählten die Dichter Aleksandr Puškin, Anton Del’vig und der Dekabrist Wilhelm Küchelbecker, der spätere Außenminister Aleksandr Gorčakov sowie der Direktor der Kaiserlichen Bibliothek in St. Petersburg von 1849 bis 1861, Modest Korf. In dem Lyzeum herrschte zunächst ein besonderer, „freier Geist“, der durch Lehrkräfte mit umfassender europäischer Bildung (V. F. Malinovskij, A. P. Kunicyn, I. K. Kajdanov, N. F. Košanskij; siehe hierzu die nicht herangezogene Monographie: M. A. Ljubavin: Licejskie učitelja Puškina i ich knigi. Sankt-Peterburg 1997) sowie durch die Lektüre der Lyzeisten selbst angeregt wurde, jedoch ab 1823 einer militärischen Disziplinierung weichen musste (vgl. die Rez. des Verfassers zu L. B. Michajlova: Carskosel’skij licej i tradicii russkogo prosveščenija. Sankt-Peterburg 2006, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008) 2, S. 432–433).

Im Rahmen eines neuen Projekts, das an der Boris-El’cin-Universität in Ekaterinburg in Angriff genommen wurde, soll die Bibliothek des Lyzeums katalogisiert und den Lesern zugänglich gemacht werden; dabei ist an Historiker, Bibliographen, Bibliophile und Sammler seltener Bücher gedacht. In der zuerst in russischer und anschließend in englischer Sprache verfassten Einleitung von Olga Kadočigova wird die Geschichte der Bibliothek rekonstruiert. Zar Alexander I. stellte dem neugegründeten Lyzeum die Büchersammlung seiner Großmutter Katharina II. zur Verfügung, die die Bibliotheken Voltaires, Büschings und Diderots (dazu jetzt: S. V. Korolev: Biblioteka Diderota. Opyt rekonstrukcii. Sankt-Peterburg 2016) enthielt, sowie einen Teil der Bücher aus dem Departement des Ministeriums für Volksaufklärung (insgesamt 4195 Titel, vgl. S. 7). Karten, Pläne und Atlanten wurden aus dem Militärtopographischen Dienst herbeigeholt. Die letzte für die Bibliothek angeschaffte Publikation war das 1916 erschienene Lehrbuch des Staatsrechts von A. A. Žilin. 1917 umfasste die Sammlung 11.415 Titel in möglicherweise mehr als 20.000 Bänden (vgl. S. 9). Nach der Auflösung des Lyzeums von Carskoe Selo gelangte die Bibliothek nach mehreren Irrfahrten quer durch das vom Bürgerkrieg verwüstete Land 1921 in die entsprechend einem Dekret V. I. Lenins vom Vorjahr neu gegründete Staatliche Universität des Ural in Ekaterinburg, wobei es unterwegs zu Verlusten kam. Nach 1970 führte man etwa 1300 Titel wieder in das A. S. Puškin-Museum im Gebäude des Lyzeums in Puškin zurück. Doch der größte Teil der Bestände wurde in die regionale Sammlung der Buchdenkmäler des Mittleren Ural eingegliedert.

Im vorliegenden ersten Band, der auch als elektronische Publikation zugänglich ist, werden 900 Titel alphabetisch, von „Avramov“ bis „Jacenkov“, verzeichnet, die bis 1830 in Russland erschienen sind. Das ist der bei weitem umfangreichste Teil des Bandes (S. 35-539). Die Zugehörigkeit von Titeln zu den Beständen der Bibliothek wurde vor allem anhand von Exlibris und Stempeln ermittelt, die hier abgebildet sind (S. 9–12; 24–27). Den Beschreibungen der Titel und der Einbände im Katalogteil werden als Illustrationen in etlichen Fällen die Titelblätter und bemerkenswerte Abbildungen in Schwarzweiß (S. 164) sowie in Farbe (S. 11) beigegeben. Die bibliographischen Angaben wurden mit Hilfe der Sammelkataloge (Svodnye katalogi) der russischsprachigen Bücher in bürgerlicher Schrift 1725–1800 (6 Bände, 1962–1975), der von 1801–1825 erschienenen Buchtitel (3 Bde., 2000–2013) und Serienwerke (3 Bde., 1997–2006) sowie der bewährten Nachschlagewerke von A. F. Smirdin (1828, 1829, 1856) und V. S. Sopikov (1904, 1906), die 2006 wieder in Nachdrucken zugänglich gemacht worden sind, überprüft und vervollständigt. Wertvoll sind die Hinweise auf die offiziellen Zensoren, welche die Bücher zu begutachten hatten.

Der Katalog bietet einen Einblick in die russischsprachige Literatur der ersten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts; nur vereinzelt finden sich Titel aus der Zeit vor 1800. Entsprechend den Aufgaben und Erziehungszielen des Lyzeums ist Literatur auf den Gebieten der Pädagogik (so der Kinderfreund J. H. Campes), des Militärwesens, der Geschichte und Geographie, des Rechtswesens, der Wirtschaft und der Medizin, die geistliche Literatur mit Predigten und Andachtsbüchern vertreten. Zu den vergleichsweise wenigen naturkundlichen Werken zählt das vielbändige, von I. Dvigubskij 1820–1830 herausgegebene Novyj magazin estestvennoj istorii. Die Lyzeisten erwarben mit Sprachhilfen und Wörterbüchern der Bibliothek zum Teil beachtliche Fremdsprachenkenntnisse. Ausgaben altgriechischer Klassiker durch I. I. Martynov, Übersetzungen der Werke Homers (Nachdichtung von N. I. Gnedič), Hesiods, Herodots, Pindars, des Plinius, Cicero, Plutarch und Vergil zeugen vom Stand der Übersetzungskunst aus dem Griechischen und Lateinischen in Russland. Zahlreiche kriegsgeschichtliche Abhandlungen, Berichte und Erzählungen erinnerten an die nur wenige Jahre zurückliegenden Waffentaten in den Kriegen gegen Napoleon 1812–1814. Reisebeschreibungen durch Russland, in die asiatischen Länder und bis in die Südsee (Otto von Kotzebue) sowie Werke zur Landeskunde ermöglichten eine Vorstellung von den geographischen Räumen und der ethnischen Vielfalt der Kontinente. In der Zeit einer nervösen, konfessionsüberschreitenden, teils pietistischen und quietistischen Religiosität sowie der Tätigkeit der Bibelgesellschaft ab 1814 wurden Schriften von J. M. de Guyon, K. von Eckartshausen, J. H. Jung-Stilling und J. E. Gossner übersetzt, bis die orthodoxe Kirchenführung 1824 diesen Modeströmungen ein jähes Ende bereitete.

Da im Lyzeum die ausländischen Schriftsteller in den wichtigsten Nationalsprachen gelesen wurden, bedeutete die russischen Übersetzungen eher eine Auswahl: aus der französischen Literatur etwa Racine, Fenélon, Fontenelle, Voltaire und Marmontel. In den Salons des russischen Adels waren die Schriftstellerinnen Madame Genlis und Madame du Staël-Holstein, Chateaubriand und der Brite Lord Byron ausgesprochene Modeautoren. Die deutsche Literatur wird zwar durch Gellerts Morallehre und Klopstocks Messias, nicht aber durch Goethe repräsentiert; von Friedrich Schiller wurde die Übertragung seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (4 Bde., 1815) erworben. Zwar konnten die namhaften russischen Schriftsteller des „Goldenen Zeitalters“ Katharinas II. gelesen werden (M. V. Lomonosov, A. P. Sumarokov, M. M. Cheraskov, I. F. Bogdanovič und G. R. Deržavin), doch erstaunt das Fehlen der Werke Nikolaj Karamzins, des bedeutendsten Schriftstellers und Historikers jener Zeit, während die Abwesenheit der Dichtungen des zeitweise in Ungnade geratenen Aleksandr S. Puškin durch seine jahrelange Verbannung erklärt werden kann. Die russische zeitgenössische Belletristik ist mit Erzählungen, Dramen und Gedichtsammlungen vertreten (K. N. Batjuškov; A. A. Bestužev-Marlinskij, F. Bulgarin, F. N. und S. N. Glinka, P. I. Šalikov, S. A. Širinskij-Šišmatov, A. S. Šiškov), die vor allem das patriotische Gefühl in den Adelszöglingen wecken sollten. Russische Schriftstellerinnen jener Jahre waren Marija Bolotnikova, Anna Bunina und Sofija Meščerskaja. In der Bibliothek wurden nicht nur Einzelausgaben, sondern auch mehrbändige Anthologien und Almanache, Dichtungs- und Predigtsammlungen sowie einige Zeitschriften wie das Artillerijskij Žurnal aufbewahrt.

In dem auf den Katalogteil folgenden Personennamenverzeichnis wird auch die lateinische Schreibweise wiedergegeben (was in anderen russischen Publikationen nicht selbstverständlich ist). Nach Möglichkeit werden die Lebensdaten der Autoren erfasst. Ein Register der russischsprachigen Buchtitel und ein Verzeichnis jener Lyzeisten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, von denen handschriftliche Marginalien in den Büchern erhalten sind, folgen. Den Abschluss bildet ein Verzeichnis der bei der Zusammenstellung des Kataloges benutzten Literatur, das 46 Drucke und Internetseiten umfasst. Darunter ist allerdings kein einziges deutschsprachiges Hilfsmittel zu finden, was insofern bedauerlich ist, als in der Bibliothek eine größere Anzahl von Übersetzungen aus dem Deutschen aufbewahrt wird. Ein Verzeichnis der Illustrationen und ihrer Quellen beschließt die sorgfältig angefertigte und gediegen ausgestattete Publikation, der eine große Verbreitung auch außerhalb Russlands zu wünschen ist.

Michael Schippan, Wolfenbüttel

Zitierweise: Michael Schippan über: Russkie knigi iz biblioteki Imperatorskogo Carskosel’skogo (Aleksandrovskogo) liceja v Ekaterinburge. T. 1: Otečestvennye izdanija, opublikovannye do 1830 g., iz sobranija Otdela redkich knig Zonal’noj naučnoj biblioteki Ural’skogo federal’nogo universiteta. Sost. O. S. Arkatova / O. S. Kravčenko / L. Ė. Petrova / dr. Otv. red. O. M. Kadočigova. Ekaterinburg: Izdat. Ural’skogo universiteta, 2015, 606 S., 11 Abb. ISBN: 978-5-7996-1545-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schippan_Arkatova_Russkie_knigi_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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