Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Carmen Scheide

 

Rochelle Goldberg Ruthchild: Equality and Revolution. Women’s Rights in the Russian Empire, 1905–1917. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2010. XX, 356 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4390-7.

Als im Februar 1917 in Petrograd Unruhen und Massenproteste ausbrachen, die das Ende der Zarenherrschaft einleiteten, befanden sich unter den Demonstrierenden zahlreiche Frauen. Oftmals werden die spontanen Erhebungen in der Forschungsliteratur als Brotunruhen angesichts von Mangel und Armut durch den Krieg interpretiert. Dieser Sichtweise von einer affektiven Reaktion auf desolate Lebensumstände widerspricht die Autorin. Sie vertritt in Bezug auf die weibliche Partizipation bei den Demonstrationen die These, Frauen hätten sich beteiligt, weil sie ein über mehrere Jahre gewachsenes politisches Bewusstsein besessen hätten. Sie nutzten bewusst die Chance, ihre politischen Anliegen wie gleiche Rechte und das allgemeine Wahlrecht zu proklamieren und einzufordern. Die Autorin interpretiert die Frauenaufstände als  gezielte Aktionen, die auf einem klaren politischen Bewusstsein für weibliche Bürgerrechte basierten. Und diese Haltung sei nicht erst im Revolutionsjahr 1917 entstanden, sondern habe sich spätestens seit der Revolution von 1905 herausgebildet und als soziale Bewegung entwickelt. Ein zwölf Jahre dauernder Kampf führte dann zur Einführung des Frauenwahlrechts im Juli 1917.

Rochelle Goldberg Ruthchild knüpft mit ihrer vorliegenden Studie zur Frauenbewegung in der ausgehenden Zarenzeit an ihre eigenen einschlägigen Forschungen zum Thema sowie an die Arbeiten von Richard Stites, Linda Edmondson, Norma Noonan und Bianka Pietrow-Ennker an. Sie wertet bekanntes Quellenmaterial wie zeitgenössische Frauenzeitschriften, Dumaakten, Kongressberichte und Selbstzeugnisse aus, zudem fließt in die Arbeit eine sehr gute Kenntnis der vorhandenen Forschungsliteratur mit ein. Auch wenn die Autorin tendenziell keine neuen, überraschenden Einblicke bietet, arbeitet sie fundiert heraus, wie sich ein Bewusstsein für Frauenrechte zwischen 1905 und 1917 in verschiedenen sozialen Schichten und politischen Gruppierungen herausbildete. Ihr ist es ein Anliegen, nicht nur die verschiedenen Organisationen wie „Russkoe ženskoe vzaimnoblagotvoritel’noe obščestvo“ (1895–1917), „Sojuz ravnopravija ženščin“ (1905–1908), „Sojuz ženščin“ (1907–1909) oder die „Liga ravnopravija ženščin“ (1907–1917) vorzustellen, sondern auch die bislang weitgehend namenlosen Akteurinnen, die daran beteiligt waren, sichtbar zu machen. Deshalb schildert sie ausführlich Lebensläufe von verschiedenen aktiven Frauen, die interessante Hinweise für weitere Forschungen zur Frauengeschichte, über Netzwerkbildung, weibliche Intelligencija und die jüdische Minderheit im Zarenreich bieten.

Zudem widerlegt die Verfasserin die Annahme, die engagierten Frauenrechtlerinnen hätten als privilegierte Frauen eine marginale Stellung besessen und deswegen die Bedürfnisse einfacher Frauen nicht gekannt. Sie hätten nur den eigenen Status verbessern wollen. Überzeugend kann sie diese Sichtweise, die maßgeblich durch eine spätere Kategorisierung in der Sowjetzeit geprägt wurde und implizit auch die Erforschung der russischen Frauengeschichtsschreibung geprägt hat – die strikte Trennung zwischen einer bürgerlichen und einer proletarischen Frauenbewegung – relativieren. Sie zeigt auf, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Gruppierungen fließender waren und auch sogenannte einfache Frauen dem Wahlrecht Bedeutung zumaßen.

Rochelle Goldberg Ruthchild knüpft an zwei wichtige, über die russische Frauengeschichte hinausgehende Forschungsfelder an: Die Frauenrechtsbewegung verortet sie einerseits in einem dynamischen politischen Milieu der ausgehenden Zarenzeit, aber auch in einem globalen Kontext von anderen, zeitgleichen Frauenbewegungen. Obwohl Russland weder ein stabiles, noch ein fortschrittliches Land gewesen sei und oftmals als rückständig bewertet wurde, sei ausgerechnet in einem Teilterritorium, dem Großfürstentum Finnland, 1906 erstmals das Wahlrecht für Frauen eingeführt worden. Nach der Schließung der Ersten Duma im selben Jahr, in der durch die intensive Lobbyarbeit des „Sojuz Ženščin“ besonders bei liberalen und linken Parteien über die Frauenfrage diskutiert worden war, musste der Zar Reformzugeständnisse in Finnland machen. 1907 gab es dort die ersten weiblichen Parlamentsabgeordneten weltweit. Ruthchild diskutiert die Frage, wieso dieser für Feministinnen wichtige Schritt zur Gleichberechtigung ausgerechnet in Finnland stattfand. Möglicherweise färbte ein liberales Umfeld in Skandinavien auf Finnland ab, vielleicht spielte die periphere Lage eine Rolle. Für das Zarenreich blieb dieser Schritt auf einer rechtlichen Ebene folgenlos, denn die gesellschaftlichen Aufbrüche nach dem gegen Japan verlorenen Krieg von 1905 und damit verbundene Reformhoffnungen wurden durch die Politik Stolypins abgeblockt. Eine einsetzende allgemeine Krisenstimmung erfasste auch die Frauenbewegung, was sich besonders in den entsprechenden Publikationsorganen wie etwa dem „Ženskij Vestnik“ zeigte. Die Lobbyarbeit der Frauenrechtlerinnen unter politischen Gruppierungen wie den Kadetten, den Trudoviki, Oktobristen oder Sozialrevolutionären und deren Versuche, in einer der vier Dumas entsprechende Petitionen zu platzieren, wird detailreich geschildert. Gegner eines Frauenwahlrechts argumentierten, Frauen würden möglicherweise zu konservativ wählen, oder aber zu stark radikalisiert werden. Ihr Ort sei die private, nicht die öffentliche Sphäre. Pavel Miljukov, der sich mit den Ideen von Bertha von Suttner auseinandergesetzt hatte, sah in einer Gleichstellung von Frauen hingegen einen wichtigen Schritt für die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Die Ereignisse rund um die Februarrevolution 1917 gleichen in der Darstellung einer mikrohistorischen Rekonstruktion, was die eingangs erwähnte These über die Aktionen einer sozialen Bewegung jedoch plausibel werden lässt.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut und durch die Schilderung des allgemeinen historischen Kontextes gut verständlich. Zudem bietet die Autorin einen Überblick über die russischen Frauenbewegungen, denn die Grundlagen für die Tätigkeit der Frauenrechtlerinnen wurden durch die erste, um 1860 entstandene Frauenbewegung, die Einrichtung von höherer Frauenbildung in eigenen Kursen seit 1872 und die Gründung von Interessenorganisationen gelegt. Das Buch ist mit größter Sorgfalt ediert, enthält eine Zeittafel, eine ausführliche Bibliographie und einen Index. Es bietet gerade durch die durchgängige Einordnung der russischen Ereignisse in transnationale Zusammenhänge eine erweiterte Perspektive und muss als neues Standardwerk zur Frauenfrage und Frauenbewegung in der ausgehenden Zarenzeit gelten.

Carmen Scheide, Konstanz

Zitierweise: Carmen Scheide über: Rochelle Goldberg Ruthchild: Equality and Revolution. Women’s Rights in the Russian Empire, 1905–1917. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2010. XX, 356 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4390-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scheide_Ruthchild_Equality_and_Revolution.html (Datum des Seitenbesuchs)

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