Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Carmen Scheide

 

Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. Übersetzung der Protokolle aus dem Russischen von Christiane Körner / Annelore Nitschke. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012. 608 S., 3 Ktn., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-10-030213-7.

Die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion ist noch nicht hinreichend erforscht, auch wenn gut gefüllte Spezialbibliotheken und eine monumentale staatliche sowjetische und nachfolgend russische Geschichtspolitik dies suggerieren. Denn noch immer sind wichtige russische Archivbestände nicht für Forscher freigegeben, etwa beim Archiv des Verteidigungsministeriums. Hinweise auf forschungsrelevante Bestände ließen sich bereits immer wieder in sowjetischen Publikationen finden, doch blieb der Zugang jahrzehntelang verwehrt. So auch zu den umfangreichen Dokumenten der sogenannten Minc-Kommission, einer Gruppe von Historikern, die im Dezember 1941 damit begonnen hatte, Kriegsteilnehmer zu befragen, um Ereignisse und Erfahrungen möglichst breit zu dokumentieren. Der Bestand umfasst etwa 5000 verschriftlichte Interviews, sogenannte Stenogramme. Dies ist im Vergleich mit Material in anderen kriegsteilnehmenden Ländern eine Besonderheit. In dem vorliegenden Buch werden erstmals ausgewählte Stenogramme einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Der Historiker Jochen Hellbeck, ein Spezialist für Selbstzeugnisse und Stalinismus, konnte zusammen mit einer Forschergruppe die Dokumente sichten und für eine Publikation aufarbeiten – ein unschätzbarer Verdienst.

Dafür wählte er den thematischen Fokus der Schlacht um Stalingrad. Die Minc-Kommission führte zu Beginn des Jahres 1943 dazu 215 Interviews mit ganz unterschiedlichen Kriegsteilnehmern durch, die in der Zusammenschau ein dichtes, zeitnahes Bild über Wahrnehmungen und Sichtweisen der sowjetischen Teilnehmer vermitteln. Der deutschsprachigen Forschung zu Stalingrad lagen bisher kaum Informationen zu den sowjetischen Erfahrungen im Kessel vor. Diese Lücke kann nun durch die vorliegenden Quellen geschlossen werden.

Doch darüber hinaus liegt auch eine Quellensammlung vor, die in Hinblick auf die Motivation sowjetischer Soldaten im Krieg, die Konstruktion der damaligen sozialen Wirklichkeit, auf individuelle Wahrnehmungen und Haltungen zum Stalinismus sowie öffentliche Sprechakte exemplarische Einblicke bietet. Im Gegensatz zu später verfassten Memoiren, die nicht nur einer Selbstzensur, sondern auch strengen Publikationskriterien der zentralen Zensurbehörde Glavlit unterlagen, sind die Stenogramme am Ort des Geschehens entstanden. Für die Interviews gab es schriftliche Anweisungen, da der Mitarbeiterstab zur Erfassung groß war und die Richtlinien der Qualitätssicherung dienen sollten. Ziel war es, möglichste genaue Angaben zu Orten, Fakten, Ereignissen und Personen zu erhalten. Die Gesprächspartner wurden angehalten, möglichst frei zu erzählen und dabei zwei Punkte zu beachten: ihr Erleben im Krieg zu dokumentieren und an die Gefallenen zu erinnern. Die Durchführung der Befragungen stieß auf großes Interesse. Die Quellen umfassen Lebensgeschichten, Alltagsschilderungen, soziale Beziehungen, Wertvorstellungen und Sinnhorizonte.

Der damalige Leiter der im Dezember 1941 gegründeten Kommission zur Geschichte des Vaterländischen Krieges, Isaak Minc (1896–1991), war von den „Historikern der Avantgarde“ geprägt worden, die sich als Dokumentaristen verstanden, als Sammler von Zeitzeugenberichten. Minc schwebte eine histoire totale des Krieges vor, weshalb er möglichst unvoreingenommen Material sammelte. Jochen Hellbeck bietet in der Darstellung der Kommissionsarbeit und ihrer Geschichte auch Einblicke in eine marginalisierte, aber wichtige Tradition der sowjetischen Historiographie. In den Nachkriegsjahren gab es kontroverse Debatten um die Verwendung der Interviews, zudem sah sich der Jude Isaak Minc ab 1947 mit massiven antijüdischen Vorwürfen konfrontiert und musste die Leitung der Kommission abgeben. Nach Stalins Tod wurde er zwar rehabilitiert, aber staatlich normierte und kontrollierte Narrative über den „Großen Vaterländischen Krieg“ hatten sich bereits längst etabliert. Nur durch Zufall konnte die umfangreiche Materialsammlung überliefert werden; sie liegt heute im Wissenschaftlichen Archiv des Instituts für Russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Ausführungen von Jochen Hellbeck und den eigentlichen Dokumenten. In seiner sehr ausführlichen Einführung schildert Jochen Hellbeck den Kontext der Schlacht um Stalingrad und geht auf die Formierung der Roten Armee seit der frühen Sowjetzeit ein. Er setzt sich mit dem Verhältnis von Partei und militärischer Führung in der Armee während des Zweiten Weltkriegs auseinander, fragt nach der Rolle der sowjetischen Herrschaft in der damaligen Gesellschaft und skizziert bisherige Forschungen zu Stalingrad und sowjetischen Kriegsteilnehmern.

Im zweiten Teil werden dann die Quellen thematisch-chronologisch gebündelt und jeweils mit einem Kommentar sowie editorischen Notizen versehen dem Publikum in Übersetzung zugänglich gemacht. Es gibt sowohl längere Einzelinterviews, als auch Kollagen aus verschiedenen Stimmen in Stalingrad, die spezifische Situationen widerspiegeln sollen (etwa: Das Schicksal der Stadt und ihrer Einwohner, S. 111–164). Ein Unterkapitel verleiht deutschen Gefangenen eine Stimme (S. 486–522). Diese Texte laden zu einer intensiven kritischen Analyse ein. Im Buch finden sich auch sehenswerte zeitgenössische Fotografien, die eine eigene Quellengattung sind, allerdings ebenfalls einer weiteren Kontextualisierung bedürfen. Leider wurde trotz aller Sorgfalt auf eine unerlässliche Bibliographie verzichtet.

In einer ersten Interpretation der publizierten Dokumente weist Jochen Hellbeck schlüssig nach, dass die Kriegsteilnehmer Konzepte wie Selbstkonditionierung, Disziplinierung und das Ideal des „neuen Menschen“ sowjetischen Typs aus den dreißiger Jahren stark verinnerlicht hatten. Der Appell, durch Willenskraft und Willensbildung könne jeder zu einem Helden werden, war Bestandteil der politischen Propaganda, die zumindest in Bezug auf Teilnehmer in Stalingrad erfolgreich war. Im Verlauf der Kriegsjahre weitete die Partei durch ihre Kommissare und Politinstrukteure ihren Einfluss in der Armee zunehmend aus. Der Parteibeitritt wurde vereinfacht, was zu stark steigenden Mitgliederzahlen führte. Es wurden auf breiter Basis politische Schulungen durchgeführt, die eine Nähe zwischen der politischen Führung und den Kriegsteilnehmern suggerierten und Grund für eine erfolgreiche Mobilisierung waren. Hellbeck argumentiert, dass bisherige Annahmen, der Krieg habe zu einer spontanen Entstalinisierung geführt, revidiert werden müssten. Nach seiner Interpretation der Selbstzeugnisse griffen Partei und Gesellschaft eng ineinander. Damit eröffnet er spannende neue Forschungsdebatten. Die Stalingrad-Protokolle knüpfen an verschiedene Forschungsfelder aus dem Bereich der sowjetischen Geschichte, der Militärgeschichte, der Gewalt- und Erinnerungsforschung an, richten sich aber durch die sehr sorgfältige Edition auch an ein breit interessiertes Publikum. Die Interpretationsansätze von Jochen Hellbeck und die Quellen selbst werfen Fragen nach anderen Schauplätzen im deutsch-sowjetischen Krieg, nach Vergleichen mit der NS-Diktatur und Veränderungen in den individuellen Wahrnehmungen im Verlauf der Kriegsjahre auf. Es bleibt zu hoffen, dass bald noch mehr Dokumente aus dem interessanten Bestand zugänglich gemacht werden.

Carmen Scheide, St. Gallen

Zitierweise: Carmen Scheide über: Jochen Hellbeck: Die Stalingrad-Protokolle. Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht. Übersetzung der Protokolle aus dem Russischen von Christiane Körner / Annelore Nitschke. Frankfurt a.M.: Fischer, 2012. 608 S., 3 Ktn., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-10-030213-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scheide_Hellbeck_Die_Stalingrad-Protokolle.html (Datum des Seitenbesuchs)

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