Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Ralph Schattkowsky

 

Matthias Weber / Burkhard Olschowsky / Ivan A. Petranský [u.a.] (Hrsg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. München: Oldenbourg, 2011. 388 S. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 42. ISBN: 978-3-486-70244-6.

Inhaltsverzeichnis:

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Erinnerung als historische Betrachtungsperspektive und der Erinnerungsort als Bezugspunkt komplexer Reflexionen haben sich als wissenschaftliche Kategorie fest etabliert. Sie dominieren geradezu die historische und sozialwissenschaftliche Forschung der letzten zwanzig Jahre und bestimmen die intellektuellen Debatten in großer Breite. Von besonderem Interesse ist das Erinnerungsparadigma im Abgleich verschiedener traditioneller nationaler Perspektiven. Werden hier doch nicht nur die ethnisch-kulturellen Zugänge als Bestandteil der nationalen Erzählung deutlich, sondern auch für einen relative langen Zeitraum die dazu notwendigen Abgrenzungen zum Anderen sichtbar. Hier erscheinen beziehungsgeschichtliche Relevanz, mentale Prägung und aktuelle Befindlichkeiten besonders eng verwoben. Dass der ostmitteleuropäische Raum mit seinem ethnisch-kulturellen Mischcharakter und seiner gesellschaftlichen wie auch staatlichen Unstetigkeit ein besonders geeignetes Objekt zur Erprobung und Anwendung desErinnernsist, bedarf keiner weiteren Begründung. Hier setzt der vorliegende Band an. Er geht auf eine im Januar 2008 vom Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität in Warschau veranstaltete Konferenz zurück, die von verschiedenen Institutionen in Polen, Ungarn, der Slowakei und Deutschland getragen wurde, die dem Zweck dernationalen Erinnerungdienen, bzw. sich dieser Aufgabe verpflichtet fühlen. Entsprechend hochkarätig ist der Band besetzt und weckt schon von daher einige Erwartungen.

In den beiden Einleitungsbeiträgen wird der Gegenstand noch einmal tiefgründig reflektiert. Matthias Weber lässt den Ansatz von Pierre Norat Revue passieren und sieht gerade im Gegensatz zur ursprünglichen Anwendung des Erinnerungsorte-Konzeptes auf Frankreich besondere Voraussetzungen für den ostmitteleuropäischen Diskurs. Neben demethnisch und historisch zerrissenen dezentralen Raumsieht er sie vor allem in den Erfahrungen der Unfreiheit, die stärker als im westlichen Europa die Neigung zur historischen Argumentation und zur Historisierung aktueller Fragestellungen erzeugen. Daraus ergab sich für die Beschäftigung mit der Erinnerung auch ein theoretischer Bedarf, dem in ostmitteleuropäischen Ländern, besonders in Polen, in den letzten Jahrzehnten intensiv nachgekommen wurde. Als Ziel des Bandes formuliert Weber, recht bescheiden, eineErgänzung des ,Erinnerungsinventars. Er plädiert dafür, mit dem allenthalben verfolgtengemeinsamen europäischen Geschichtsverständnisoder einereuropäischen Erinnerungskulturzurückhaltend umzugehen, weil darin schon wieder eine Normierung steckt, mit der man, vor allem in Ostmitteleuropa, eher schlechte Erfahrungen gemacht hat. Auf Dan Diner verweisend spricht er sich für eine bessere Verständigung der Europäer durch einen Abgleich nationaler Gedächtnisse aus.

Im zweiten Einleitungsartikel versucht Krzysztof Pomian unter dem TitelGeteiltes Gedächtnisdas Schemenhafte des Gegenstandes Erinnerung in seiner kollektiven und individuellen Gegenüberstellung tiefer auszuleuchten und wendet sich verschiedenen Dimensionen (kognitiv, emotional, existentiell) der Erinnerung zu. Auf Anmerkungen verzichtend, konzentriert er sich auf Gedächtniskonflikte und fixiert hier die Rolle von Geschichtsschreibung und Historikern gleichsam als Regulativ. Diesen Gedanken führt er im UnterkapitelNeue Perspektivenanhand der Rolle von Staat und Politikern beim Umgang (Erinnerungspolitik) mit Erinnerung weiter. Hier steht vor allem die Frage der Verantwortung im Mittelpunkt. Pomian sieht in allem kollektiven Gedächtnis ein geteiltes Gedächtnis, woraus sich zwangsläufig ein Konfliktpotential entwickelt, dass vor allem politisch bewältigt werden muss. Wenn er am Schluss seiner bemerkenswerten Ausführungen darauf hinweist, dass die Einstellung zum kollektiven Gedächtnis (auch oder eben gerade zum Gedächtnis des Anderen) letztlich immer den lebendigen Menschen betrifft und moralischen Normen entsprechen muss, so macht er damit noch einmal auf die Komplexität des Gegenstandes Gedächtnis/Erinnerung aufmerksam und lässt den Schluss zu, dass die Diskussion um Erinnerung als wissenschaftliches Erkenntniskonzept noch lange nicht geführt ist.

Der Band wendet sich drei Medien von Erinnerungsorten zu: Städten, Orten und Zäsuren. Im ersten Teil:Städte als Erinnerungsorte mehrerer Nationenwurden drei repräsentative Städte Ostmitteleuropas ausgewählt und aus verschiedenen, zumeist nationalen Erinnerungsperspektiven behandelt. Jörg Meier schreibt über Pressburg als Erinnerungsort der Deutschen und Österreicher, Martin Pavlik über Bratislava als slowakischer Erinnerungsort und Csaba G. Kiss über Pozsonyzum ungarischen Kapitel eines Pressburg-Lesebuches. Während diese Beiträge mehr historisch-stadtgeschichtlich ausgerichtet sind, orientieren sich die nachfolgenden Texte zu Lemberg stärker problemorientiert am Gegenstand Erinnerung. Adam Redzik verortet Lwów als Erinnerungsort der Polen und betont seine kulturgeschichtliche Bedeutung für die polnische Identität während der Teilungszeit. Hier schließt Christoph Mick inhaltlich an und konzentriert sich auf den multiethnischen Charakter der Stadt und dessen Bedeutung im Zeitalter von Nationalismus und Krieg. Delphine Bechtel beschreibt Lviv als Stadt der selektiven Erinnerung in der nationalen Geschichtskonstruktion der Ukraine seit 1991. Sie zeichnet ein sehr eindringliches Bild von der Gestaltung einer Geschichte und einer Erinnerungspolitik, die sich stringent in den Dienst des Nationalismus stellt. Unter dem Verdikt einer Kontinuität ukrainischer Geschichte, die es so nie gab, wird das polnische, deutsche und jüdische Erbe der Stadtgeschichte soweit wie möglich ausgeblendet. Die Massaker an der jüdischen und auch der polnischen Bevölkerung bleiben unerwähnt. Im Vordergrund stehenHeldentumder Kosaken und ukrainischer Nationalisten; Täter werden zu Opfern und die Konflikte mit der bolschewistischen Herrschaft werden ethnisch aufgeladen. Norbert Conrads wendet sich Breslau zu und beschreibt die identitätsstiftende Gedenkkultur in der Stadt seit der frühen Neuzeit, wobei er es sehr gut versteht, Würde und Bedeutung der Stadt in ihrer Geschichte an diesen Aspekt zu knüpfen. Teresa Ku­lak führt diesen Gedanken für die Nachkriegszeit weiter und berichtet über die Aneignung der Stadt durch die Neubürger von den apokalyptischen Erfahrungen am Ende des Krieges bis zur allmählichen Identifikation mit der Stadt als eine Art der Bewältigung des eigenen Verlustes. Auch aufgrund dieser Erfahrungen sieht sie in Breslau einen Vorreiter im Prozess der Schaffung gemeinsamer Erinnerungsorte nach 1989.

Der zweite Teil des Buches widmet sich Orten der Erinnerung an die Opfer totalitärer Systeme. Alicja Białecka formuliert die im Erinnerungsdiskurs wiederholt gestellte Frage: Wem gehört Auschwitz? Ihr geht es dabei vor allem um die verschiedenen Wahrnehmungen von Auschwitz bei Polen und Juden. Sie schildert die sich darum rankenden Dispute und Irritationen und kommt zu dem Schluss, dass sich in diesem Prozess der bewussten Wahrnehmung des Anderen eine polnisch-jüdische Annäherung vollzogen habe. Im zweiten Teil des Aufsatzes bietet die Autorin einige interessante Aspekte der musealen Gestaltung, der Bildungsarbeit und der Institutionalisierung der Auschwitz-Er­in­nerung in Europa. Eben diese Fragen spielen auch im Artikel von Barbara Distel über das Konzentrationslager Dachau eine zentrale Rolle. Sie schildert die besondere Bedeutung von Dachau bei der Erarbeitung eines Erinnerungskonzeptes in der Bundesrepublik über die Stufen der Verdrängung der Erinnerung in der Nachkriegszeit, ihrer Aneignung zwischen zwischen 1975 und 1985 bis hin zu einer Europäisierung nach 1990. Paweł Ukielski macht den Stellenwert des Warschauer Aufstandes in der Erinnerungspolitik Polens nach 1990 mit dem MuseumsprojektMuseum des Warschauer Aufstandesdeutlich. Hier berücksichtigt er sowohl die starke Einbeziehung der Bevölkerung als auch die Rolle des Vorhabens in der Politik der Regierung Kaczyński. Kristián Ung­váry will in seinem AufsatzOrte der Erinnerung an kommunistische Verbrechenanhand desHauses des Terrorsund desZentralfriedhofsin Budapest Beispiele für  Einseitigkeit und Verharmlosung in der ungarischen Erinnerungskultur geben. Hier geht es vor allem um die Aufrechnung der Verbrechen der ungarischen Faschisten mit denen der Kommunisten, wobei die Verherrlichung und Entlastung der eigenen Nation eine wichtige Rolle spielt. Oleksandra M. Veselova schreibt über die Erinnerungsorte für die Opfer des Holodomor in Ukraine. Ergänzend zu den Texten über Lemberg gibt sie Informationen über die Gedenkstättengestaltung und die Organisierung des Widerstandes auf dem platten Lande. Anna Kaminsky beschäftigt sich mit den Orten der Erinnerung an die Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in Ostmitteleuropa und der Russischen Föderation. Ihre eingangs formulierte These, dass in Deutschland und Westeuropa große Unkenntnis über die Verbrechen kommunistischer Besatzung herrscht, darf zumindest für den Zeitraum nach 1989 bezweifelt werden. Sie macht besonders in Russland noch große Defizite in der Erinnerungspolitik aus, wo zwar zunehmend die Verbrechen eingestanden werden, aber immer noch mit Argumenten besonderer Bedingungen eine Relativierung erfahren. Im letzten Artikel dieses Abschnittes schildert Andrzej Prze­woźnik in einem ersten Teil die Katastrophe von Katyn und die Bemühungen ihrer Aufklärung, während Jan Rydel sich im zweiten Teil der Erinnerung vornehmlich unter dem Aspekt der internationalen Akzeptanz der historischen Wahrheit zuwendet. Der Artikel hat im Anhang ein Verzeichnis der Veröffentlichungen von Andrzej Przewoźnik, der Generalsekretär des Rates zum Schutz des Gedenkens an Kampf und Martyrium in Warschau war und bei dem Flugzeugunglück bei Smolensk ums Leben kam.

Der dritte Teil des Bandes enthält Beiträge zu den Zäsuren 1945, 1956, 1968 und 1989. Während auch hier der ostmitteleuropäische Bezug im Vordergrund steht und durch die Auswahl in gewisser Weise ja auch vorgegeben ist, spielt jedoch die west-östliche Diskrepanz in der Wahrnehmung und erinnerungspolitischen Verortung eine größere Rolle. Diese Beiträge verweisen damit nochmals auf die im Beitrag von Weber erörterten Probleme bei der Schaffung einer Erinnerung in europäischer Dimension.

Der Band enthält ein Personenverzeichnis, ein Verzeichnis der Mitarbeiter sowie eine Ortsnamenkonkordanz.

Ralph Schattkowsky Rostock/Toruń

Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Matthias Weber / Burkhard Olschowsky / Ivan A. Petranský [u.a.] (Hrsg.): Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. München: Oldenbourg, 2011. 388 S. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 42. ISBN: 978-3-486-70244-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schattkowsky_Weber_Erinnerungsorte_in_Ostmitteleuropa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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