Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band jgo.e-reviews 1 (2011), 3, S.  

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Ralph Schattkowsky

 

Jens Boysen: Preußische Armee und polnische Minderheit. Royalistische Streit­kräfte im Kontext der Nationalitätenfrage des 19. Jahrhunderts (1815–1914). Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2008. 328 S., Kte. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 18. ISBN: 978-3-87969-340-5.

Die Arbeit von Jens Boysen ist wichtig. Bedenkt man den Stellenwert des Militärs in Preußen und im preußisch-deutschen Reich, ihre Aufgabenstellung und deshalb auch ihre Konzentration im preußischen Osten, so ist eine solche Untersuchung angesichts des gut bearbeiteten Feldes der deutsch-polnischen Beziehungen geradezu überfällig. Gemeinhin wird dem Militär eine bestimmende Funktion bei der preußischen Germanisierungspolitik zugeschrieben, indem – nach dem Besuch der deutschen Schule und der Erfahrung einer deutsch dominierten Gesellschaft – den Polen durch den Militärdienst als Sozialisationsinstanz gleichsam ‚der letzte Schliff‘ bei einer preußischen, bzw. reichsdeutschen Identitätsbildung gegeben werden sollte. Der Autor weist jedoch schon bei seiner einführenden kritischen Wertung des Forschungsstandes auf die Brüchigkeit der formalen Wertung der Armee als konstitutionellen Faktors im Nationalisierungsprozess und als Teil der neuen (nationalen) Gesellschaft hin. Er wendet sich gegen die These des „Germanisierungsauftrages“ der Armee und ihrer Funktion bei der Entnationalisierung der Polen. Hierin sieht Boysen eine unzulässige Vermischung oder Gleichsetzung von preußischer Polenpolitik und Führung der Armee, eine „abstrakte Deduktion“, die der Kritik der Forschung nicht standhält. Der Autor will deshalb bewusst andere Wege gehen, indem er das Verhältnis der Polen zum preußischen bzw. preußisch-deutschen Staat in den Mittelpunkt stellt und eben nicht auf jene die Historiographie dominierenden Elemente von Aufstand und Dissens abhebt, die das deutsch-polnische Verhältnis auf ein vor allem von Kampf geprägtes reduzieren. Methodisch nimmt er Anregungen der neueren Militärgeschichte auf und positioniert seinen Gegenstand zwischen Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte, woraus er Leitfragen formuliert (S. 9), die sich einerseits auf die gegenseitige Wahrnehmung und das Verhalten der Akteure, andererseits auf die Wirksamkeit einer nationalen Idee konzentrieren.

In einem chronologischen Teil handelt Boysen die Zeiträume bis zur Reichsgründung und bis zum Ersten Weltkrieg ab (Kapitel II und III). Hier finden strukturelle Elemente der militärischen Organisation und der Dienstverhältnisse ebenso Berücksichtigung wie mentale Fragen der gegenseitigen Beurteilung, der Motivationen und der Erinnerung (Stichwörter „Traditionsverhalten“/„Kriegervereine“). Bemerkenswert ist ein Exkurs (Kapitel III.6) über die Polen in den Armeen Österreich-Ungarns und Russlands. In einem weiteren Teil (Kapitel IV) wendet sich der Autor den preußischen Ostgebieten zu und behandelt vor allem am Beispiel der Provinz Posen die genannten Fragestellungen vor dem Hintergrund der Grenzlage der Region und der in ihr dominierenden polnischen Gesellschaft. Das Verhältnis von Militär und ziviler Gesellschaft bildet hier genauso einen Schwerpunkt wie die Haltung des Offizierskorps gegenüber der Ostmarkenpolitik.

Die Aufgabe, die sich der Autor stellt, ist nicht nur von den Fragestellungen her anspruchsvoll und innovativ, sondern auch hinsichtlich der Quellenlage kompliziert. So sind die Akten des Heeresarchivs fast vollständig vernichtet und die Forschungsliteratur dünn und traditionell orientiert. Auf geschlossene Bestände konnte der Autor somit nicht zurückgreifen und musste deshalb Quellen in unterschiedlichen Beständen verschiedener Landes- und Regionalarchiven heranziehen. Zu einer Hauptquelle werden Zeitungen, die der Autor umfänglich auswertet, und auch Erinnerungen polnischer Soldaten. Die Quellenlage bedingte die Konzentration des Autors auf „die eigenständigen Handlungen der Armeeführung“. Des Weiteren stellt er chronologisch die Zeit zwischen dem Januaraufstand und dem Beginn der Ersten Weltkrieges sowie geographisch die Provinz Posen in den Mittelpunkt der Betrachtung, was legitim erscheint, da sowohl der gewählte Zeitraum als auch die behandelte Region als abgrenzbare Einheiten gelten können.

Als Hauptergebnis seiner Untersuchung macht der Autor das „Phänomen der Gleichgültigkeit“ aus. Er stellt fest, dass der von deutschen bürgerlichen Kräften getragene nationale Gedanke bis in die Zeit unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges im Umgang mit den Polen keine Rolle spielte und stattdessen als Konfliktfeld weiterhin der Gegensatz zwischen protestantisch geprägter preußischer Armee und polnischem Katholizismus dominierte. Im Grunde kann der Autor keine spezifische Nationalitätenpolitik in der Armee ausmachen. Nationale Spannungen wurden allein unter dem Blickwinkel der autoritären Kontrolle der Untergebenen gesehen. So genoss die Armee in der polnischen Bevölkerung ein weit höheres Ansehen, als dies bei den preußischen Zivilbehörden der Fall war, und ein Negativbild der Dienstzeit ist eher die Ausnahme, was der rege Zuspruch der Kriegervereine bei den Polen belegen kann. Der Autor zieht daraus den Schluss, dass durch die weitestgehende Ausblendung der nationalen Frage die Armee einerseits als gemäßigte Institution erscheint, sie andererseits jedoch dadurch den national bestimmten Kämpfen am Ausgang des Ersten Weltkrieges kaum etwas entgegensetzen konnte und eine gewisse Unfähigkeit zeigte, darauf zu reagieren.

Jens Boysen gelingt es, ein differenziertes und plastisches Bild sowohl von der Haltung des preußischen Militärs zu den „Soldaten polnischer Zunge“ als auch von deren Stellung und Verhalten in der preußischen Armee aufzuzeigen und es unter neuen Fragestellungen zu werten. Zweifellos hat er damit nicht nur einen wichtigen Beitrag zur konsequenten Historisierung der deutsch-polnischen Beziehungen geleistet, sondern es ist ihm auch gelungen, die immer wieder geforderte gesellschaftsnahe Beschreibung von historischen Vorgängen umzusetzen. Eine Ortsnamenkonkordanz, ein Register und eine Garnisonskarte erleichtern die Arbeit mit dem Buch.

Ralph Schattkowsky, Rostock und Toruń/Thorn

Zitierweise: Ralph Schattkowsky über: Jens Boysen: Preußische Armee und polnische Minderheit. Royalistische Streitkräfte im Kontext der Nationalitätenfrage des 19. Jahrhunderts (1815–1914). Marburg/Lahn: Herder-Institut, 2008. = Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 18. ISBN: 978-3-87969-340-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schattkowsky_Boysen_Preussische_Armee.html (Datum des Seitenbesuchs)

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