Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Susanne Schattenberg

 

Ju. E. Forkin, Al. A. Gromyko (Hg.): A. A. Gromyko. Čelovek, diplomat, politik. Materialy naučno-praktičeskoj konferencii, posvjaščennoj 100-letiju so dnja rožde­nija A. A. Gromyko, 9 sentjabrja 2009 goda. [A.A. Gromyko. Mensch, Diplomat, Politiker. Materialien der wissenschaftspraktischen Konferenz zum 100. Geburtstag von A. A. Gromyko, 9. September 2009.] Moskva: Vostok-Zapad 2010, 184 S., 48 Abb. ISBN: 978-5-478-01292-2.

Gleich zu Beginn dieser Rezension sei eine Lesewarnung ausgesprochen: Dies ist ein vollkommen unwissenschaftliches, nahezu fußnotenloses Buch, das keinerlei neue Erkenntnis bringt. Es setzt sich zusammen aus 17 Grußwörtern und Reden, die nicht von wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern von pathetischem Erinnern und Verklären getragen sind. Dabei finden sich unter den Beiträgern neben Gromykos zwei Kindern durchaus nicht nur Politiker wie der Präsident Weißrusslands Lukašenko, der (damalige) Moskauer Bürgermeister Lužkov und eine Reihe ehemaliger Außenminister der UdSSR und der Russischen Föderation, sondern auch studierte Historiker und Akademiemitglieder. Jedoch, dies Genre dient der Glorifizierung und sollte bestenfalls als Quelle gelesen werden.

Um die historische Bedeutung Gromykos, der 50 Jahre lang der Außenpolitik diente und 28 Jahre lang, von 1957 bis 1985, Außenminister war, zu unterstreichen, wird er immer wieder mit Fürst Gorčakov verglichen bzw. werden westliche Staatsmänner und Experten angerufen, die ihren Respekt vor Gromyko bekundeten: Henry Kissinger schrieb, Gromyko sei die unersetzbare treibende Kraft in der sowjetischen Außenpolitik (S. 8), der unvorbereitet zu begegnen „selbstmörderisch“ gewesen sei (S. 35). Unterstrichen werden die Verdienste, die sich Gromyko um die Etablierung der UNO erwarb, wo er ab 1946 Delegierter war, um die „Friedensordnung“ bzw. „Rechtsordnung“ in der Zeit des Kalten Krieges sowie auch um die Begrenzung des Rüstungswettlaufs. Zwar habe man ihn im Westen „Mr. Net“ genannt, aber letztlich habe Gromyko von seinen westlichen Partnern wesentlich mehr „Nos“ gehört, da die sowjetische Seite erheblich mehr Vorschläge und Angebote unterbreitet habe (S. 87). So sei auch das Europäische Sicherheitssystem, das 1975 in Helsinki vereinbart wurde, eine Initiative Gromykos gewesen, die er bereits 1954 Molotov vorgelegt habe und für deren Durchsetzung die Sowjetunion dann 21 Jahre gekämpft habe (S. 66). Entscheidend war die Professionalisierung der Außenpolitik und Diplomatie unter Gromyko, der sich nicht nur um die Kaderschmiede, das MGIMO, kümmerte, sondern auch 1974 die Diplomatische Akademie gründen ließ. Er habe sich stets für eine theoretisch-methodisch fundierte, historisch informierte Außenpolitik stark gemacht. Zu seinen goldenen Regeln der Diplomatie gehörte das nüchterne Urteilen, die genaue Kenntnis seines Gegenübers, eine perfekte Vorbereitung auf jedes Treffen und die wohldosierte Offenlegung der eigenen Karten. Entsprechend galt und gilt er den einen als harter und asketischer Apparatschik, den anderen als feinsinniger und versierter Politiker mit Prinzipien (S. 8). Seine Gabe, stets vorausschauend zu agieren, brachte ihn dazu, 1985 Gorbačev zu unterstützen und ihn an die Macht zu bringen – ein Verdienst, das bei einigen seiner selbsternannten Biographen heute durchaus als sein größter Fehler angesehen wird, wie einer der Diskutanten anmerkt (S. 77). Interessant ist, dass alle der Festredner die Geschichte der russisch-sowjetischen Außenpolitik als eine einzige Kontinuitätslinie sehen, in der es weder 1917 noch 1991 einen entscheidenden Bruch gegeben habe. Mehrere Redner bestreiten, dass die Außenpolitik der Sowjetunion ideologisch bestimmt gewesen sei. Sowohl sein Sohn Anatolij als auch A. A. Besmertnych, Außenminister 1991, betonen, obwohl Gromyko sich selbst als Kommunisten bezeichnete und an den Sozialismus glaubte, sei seine Außenpolitik von den gleichen nationalen Interessen wie vor 1917 bzw. nach 1991 bestimmt gewesen. Mehr noch, er habe es nicht leiden können, wenn sich die „Ideologen“, wie Chruščev, in „seine“ Außenpolitik eingemischt hätten (S. 29). Bessmertnych betont, dass unter Gromyko die Außenpolitik vom Außenminister und seinen Diplomaten gemacht und dann vom Politbüro nur noch abgenickt worden sei. Das ist eine These, die unbedingt untersucht werden sollte, zumal der Gromyko-Sohn sie gleich widerlegt, indem er mehrere Beispiele anführt, dass sich die „politischen Führer“ leider nicht kontrollieren ließen und Chruščev, Brežnev und Gorbačev immer wieder an Gromyko vorbei ihren eigenen Weg in der Außenpolitik gingen: Chruščev, als er 1960 den Pariser Gipfel platzen ließ und 1962 die Kuba-Krise provozierte, Brežnev, als er an den USA vorbei direkte Verhandlungen mit Kanzler Willy Brandt aufnahm, Gorbačev, als er auf einen Schlag alle Positionen der Sowjetunion in Zentral- und Osteuropa aufgab (S. 26 f).

Den einzig wirklich bemerkenswerten Beitrag liefert der Botschafter B. D. Pjadyšev, der beschreibt, dass die Welt des Außenministeriums (MID) unter Gromyko hermetisch abgeschlossen war und ein „Biotop“ von Kadern darstellte, das er mit Argusaugen überwachte und mit Zähnen und Klauen gegen alle Konkurrenten, auch gegen Kosygin und Podgornyj, wildentschlossen verteidigte. Als er selbst, Pjadyšev, Assistent des Premiers Kosygin wurde und sich anheischig machte, sich mit Außenpolitik zu beschäftigen, bekam er sofort einen Anruf aus dem Außenamt, er solle sich mit „Erntefragen, Milchproduktion oder Stahlhütten“ beschäftigen, aber um die Außenpolitik kümmerten sich andere (S. 74). Entsprechend seien der „Pogrom“ bzw. die „Repressionen“ gegen Gromykos Leute ausgefallen, als Ševardnadze ins Amt kam (S. 76 f). Dies ist ein sehr wichtiger Hinweis auf die unter Brežnev florierende Clan-Politik und die Beseitigung bzw. Abrechnung mit all seinen Klienteln nach seinem Tod bzw. der Demission anderer mächtiger Gefolgsleute.

Es wäre immerhin ein Verdienst dieser Festschrift, wenn auf Grund dieses Beitrags in Zukunft eine Studie über Gromykos Herrschaftssystem im MID und seine Kultur der Außenpolitik entstehen würde.

Susanne Schattenberg, Bremen

Zitierweise: Susanne Schattenberg über: Ju. E. Forkin, Al. A. Gromyko (Hg.): A. A. Gromyko. Čelovek, diplomat, politik. Materialy naučno-praktičeskoj konferencii, posvjaščennoj 100-letiju so dnja rožde­nija A. A. Gromyko, 9 sentjabrja 2009 goda. [A.A. Gromyko. Mensch, Diplomat, Politiker. Materialien der wissenschaftspraktischen Konferenz zum 100. Geburtstag von A. A. Gromyko, 9. September 2009.] Moskva: Vostok-Zapad 2010, 184 S., 48 Abb. ISBN: 978-5-478-01292-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Schattenberg_Forkin_Gromyko.html (Datum des Seitenbesuchs)

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