Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Lennart Samuelson: Tankograd. The Formation of a Soviet Company Town: Cheliabinsk 1900s–1950s. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2011. X, 351 S., 110 Abb., 8 Tab. ISBN: 978-0-230-20887-2.

Die überaus rasante und in den 1920er Jahren aus westlicher Perspektive noch kaum für möglich gehaltene Modernisierung der Sowjetunion – ausgehend von einem weitgehend konservativ-agrarisch strukturierten Staat wie ihn das Russische Reich vor 1914 repräsentierte – übte nicht nur auf Zeitgenossen einen nachhaltigen Eindruck aus. Die UdSSR galt schon lange vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (bzw. des Großen Vaterländischen Krieges) als Pionier des modernen Städtebaues. Die Faszination dieser Entwicklung reicht bis in die Gegenwart. So ist es wenig verwunderlich, dass dieses komplexe Thema der Modernisierung der Sowjetunion in ihrer Frühphase v. a. seit dem Fall des Eisernen Vorhanges zu einem kontinuierlichen Gegenstand der historischen Forschung geworden ist. Beispielhaft im deutschen Sprachraum sind dafür etwa die Arbeiten von Thomas Bohn (Minsk, 2008); Julia Obertreis (Leningrad, 2004), Per Brodersen (Kaliningrad, 2006) und Karl Schlögel (Moskau, 2008; Petersburg, 2002). Der zunächst nach 1991 (zumindest bis zur Putin’schen Wende) überwiegend freie Zugang zu den Archiven und Schauplätzen, die weitgehend offene Diskussion um die historischen Ereignisse im Land v. a. seit der Oktoberrevolution förderten dies. Dabei kam natürlich in der Russländischen Föderation auch der Suche nach einer nunmehr erst möglich gewordenen Neubewertung der eigenen Geschichte eine tragende Rolle zu. Gängige Forschungskonzepte mussten revidiert, neue methodische Zugänge konnten erschlossen und rezipiert werden. Mehr als zwanzig Jahre danach macht sich das  innerhalb der russländischen Historiographie in einer deutlichen Zunahme ernstzunehmender regionaler Fallstudien durchaus bemerkbar (vgl. Samuelson, Kapitel 10).

Derlei komplexe Analysen konkreter Orte, durchgeführt anhand fundierter, regional basierter Archivkenntnisse – wie sie hier im Fall von Čeljabinsk bei L. Samuelson beispielhaft vorliegend – liefern wertvolles Vergleichsmaterial, das unerlässlich für eine Neubewertung der sowjetischen Modernisierungsphase unter I. V. Stalin ist. Wie schon Th. Bohn bei Minsk nach 1945 aufzeigen konnte – und das gilt auf weite Strecken auch für Čeljabinsk – klaffte zwischen dem propagandistischen Anspruch einer scheinbar homogenen, von oben gelenkten bzw. geplanten Entwicklung und deren regionaler Umsetzung nicht selten eine erhebliche Differenz, die sich aus den vielfältigen lokalen Aushandlungsprozessen und strukturellen Gegebenheiten ableitete. Diese Unterschiede werden noch augenfälliger, vergleicht man den städtischen und ländlichen Raum miteinander. Die ältere westliche Literatur zur Sowjetunion ist daher auch vielfach erheblich von der (leichter) zugänglichen (statistischen) Realität geprägt worden (vgl. S. 7). Symbolisch greift L. Samuelson diese Diskrepanz auf, indem er jedem Hauptkapitel durchgehend eingangs ein entsprechendes zeitgenössisches sowjetisches Propagandaplakat voranstellt. Der Spiegel, den Samuelson am Beispiel von Čeljabinsk für das ‚Russland‘ des 20. Jahr­hunderts (Kapitel 1) aufzustellen versucht, darf in diesem Sinne nicht als Totalreflexion des Systems verstanden werden. Vielmehr ist er hier als Teil eines überaus facettenreichen Bildes, weit abseits des suggerierten monolithischen Systems zu sehen.

Der als Professor an der Stockholm School of Economics tätige Wirtschaftshistoriker Lennart Samuelson legt mit dieser Studie eine weitere Monographie zur stalinistischen Modernisierung der Sowjetunion vor. Bereits 2000 erschien von ihm eine Arbeit zur Kriegswirtschaft und deren Planung unter Stalin (Plans for Stalin’s War Machine. Tukhachevskii and Military-Economic Planning 1925–1941, Basingstoke MacMillan).

Dem Autor gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die Entwicklung der Monogorod Čeljabinsk darzustellen. In zehn Kapiteln („Cheliabinsk As a Mirror of Russia in the 20th Century“; „From Civil War to the Five-year Plans“; „The Industrial City As a Socialist Vision and Soviet Reality“; „The Tractor Factory’s Civilian Production and Military Potential“; „Stagnation and Streamlining in the Whirlwinds of Terror, 1936–1939“; „Industrial Preparedness in Cheliabinsk, 1939–1940“; „Production Conditions for Heavy Tanks in the Urals“; „1418 Long Days on the Home Front in the Southern Urals“; „The New Military-Industrial Complex in Cheliabinsk during the Cold War“; „Historical Memory and Research in Today’s Cheliabinsk“), die vorwiegend anhand von zeitlichen Längsschnitten aufgebaut sind, zeigt Samuelson Genese und Bedeutung der Schwerindustrie in der Sowjetunion für die gesellschaftliche Modernisierung im Ural, am Beispiel der Stadt Čeljabinsk.

Ganz deutlich streicht der Autor dabei heraus, dass dieser als ‚Revolution von oben‘ forcierte, totale Strukturwandel im Wesentlichen und bewusst auf Kosten des ländlichen Raumes, seiner Bewohner und des Agrarsektors ging (vgl. S. 49 ff.). Der Komplex der favorisierten Schwerindustrie hingegen erwies sich trotz aller systemischen Rückschläge über einen langen Zeitraum bis hin zum Kalten Krieg als erstaunlich anpassungsfähig. Selbst die Folgen der stalinistischen Paranoia von permanenter Bedrohung, Spionage und Verfolgung führten lediglich zu einer Verzögerung, nicht aber zur Existenzkrise. Im Gegenteil, während des Krieges, gelang es dem zentral organisierten Planungssystem, eine bemerkenswerte Effektivität dieses Industriezweiges zu gewährleisten (S. 10). Der Grund dafür lag nicht nur in der erfolgreichen Massenmobilisierung durch den Krieg, sondern auch eher in den Fähigkeiten einzelner Persönlichkeiten, weniger im Umgang der Machthaber mit den Eliten (beispielsweise dem Chefingenieur für die Panzerproduktion in Čeljabinsk I. M. Zal’cman, vgl. S. 195 u. 268) oder bei den zentralen Planungsstellen.

Es ist allerdings schade, dass der Autor relativ wenig (Kapitel 1 und 10) auf die seit 2000 vermehrt wieder greifenden aktuellen staatlichen Ordnungstendenzen in der russländischen Historiographie eingeht. Das mag aber auch mit der im Vergleich zu Moskau oder St. Petersburg liberaleren Archivpolitik der Provinz zu erklären sein. Andererseits erwähnt Samuelson das rege Interesse der Schulen an der regionalen Geschichte, wo besonders in den Lehrplänen der 9. bis 11. Klasse ein Schwerpunkt auf die sowjetische Periode gesetzt wird (S. 285). Die Schulbücher sind aber gerade seit dem Machtantritt VV. Putins zentraler Gegenstand einer staatlich forcierten Geschichtsverklärung und entsprechen somit mehr und mehr dem genauen Gegenteil der ungebremsten Aufbruchsstimmung in diesem Feld nach 1991 (vgl. dazu etwa die Beiträge in „Osteuropa“ 2009, Heft1 und 7–8). Auch würde man sich am Ende der Studie eine eingehendere Diskussion der gewonnene Erkenntnisse in einem übersichtlich zusammengefassten Kontext zur Gesamtsituation der Sowjetunion während des betrachteten Zeitraumes wünschen, evtl. auch im Quervergleich zu anderen Studien dieser Art aus den letzten Jahren. Letzteres bleibt der Autor aber schuldig, wenngleich Samuelson das, auf die jeweiligen Kapitel verstreut, immerhin versucht. Ein Überblick lässt sich hingegen aus der dort gebotenen Fülle regionaler Details nicht leicht gewinnen.

Das schwierig zu greifende Thema der Transformation von der russischen hin zur sowjetischen Gesellschaft durch Militarisierung der Wirtschaft, Modernisierung des Bildungssystems und die Schaffung einer weitgehend loyalen, durch die Ideologie jahrzehntelang mobilisierten Gesellschaft sowie einer sozialistischen, auf den Staat ausgerichteten (urbanen) Öffentlichkeit ist zentrales Anliegen und grundlegende Fragestellung dieser spannenden Studie. Samuelson liefert am Beispiel von Čeljabinsk dafür eine Reihe von ertragreichen Antworten und möglichen Ansätzen für die weitere Forschung.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Lennart Samuelson: Tankograd. The Formation of a Soviet Company Town: Cheliabinsk 1900s–1950s. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2011. X, 351 S., 110 Abb., 8 Tab. ISBN: 978-0-230-20887-2, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Scharr_Samuelson_Tankograd.html (Datum des Seitenbesuchs)

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