Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Michail I. Mel’tjuchov: Bessarabskij vopros meždu mirovymi vojnami 1917–1940 [Die bessarabische Frage zwischen den Weltkriegen 1917–1940]. Moskva: Veče, 2010. 464 S., Ktn., Tab. = Aktual’naja istorija. ISBN: 978-5-9533-5010-5.

Der 22. Juni 1941 steht aus der Perspektive weiter gesellschaftlicher Teile sowohl Russlands (als Kerngebiet der ehemaligen Sowjetunion) als auch Rumäniens für traumatische Erfahrungen. Markierte dieses Datum doch für die UdSSR den Beginn des Großen Vaterländischen Krieges und den Eckstein eines der staatlichen Gründungsnarrative. Gleichzeitig konnte damit Großrumänien Bessarabien, das östliche Moldaugebiet, das seit 1918 zum Königreich Rumänien gehört hatte, nach einem kurzen sowjetischen Intermezzo wieder unter seine Herrschaft stellen. Die Sowjetunion musste dieses Territorium damit schon zum zweiten Mal abgeben. Die im Dezember 1917 deklarierte „Moldauische Volksrepublik“ als Bestandteil der „Föderativen Russländischen Demokratischen Republik“ war in den Wirren des Bürgerkrieges nur von kurzem Bestand gewesen. Mit den Pariser Friedensschlüssen nach 1918 war dieser Teil der Moldau, der seit 1812 zum russischen Kaiserreich gehört hatte, unter heftigem Protest Moskaus an Großrumänien gefallen. Der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 schien – zumindest aus dem Blickwinkel des Kremls – diese historische Fehlentscheidung zu korrigieren. Das Gebiet zwischen Prut und Dnister gehörte knapp ein Jahr lang als politischer Teilraum unter der Bezeichnung „Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik“ ‚neuerlich‘ zur  Sowjetunion. Das angesprochene Territorium war jedoch nur im Kern deckungsgleich. Vor allem die östliche Grenze schwankte beträchtlich und ging 1940 über den Dnister hinaus. Ein Umstand auf den der Transnistrien-Konflikt seit 1991 im Wesentlichen aufbaut.

Verlust und Wiedergewinn haben aus den Perspektiven Bukarests und Moskaus in weiten Teilen der national gefärbten Literatur wie auch im jeweils zeitgenössischen Diskurs eine sehr unterschiedliche Bedeutung. Für die junge Sowjetunion bzw. das revolutionäre Russland galt der Verlust dieses ‚angestammten‘ Gebietes als Demütigung, der im Moment der militärischen Schwäche nach 1918 nicht begegnet werden konnte, sehr wohl aber im Zuge des Wiedererstarkens als Weltmacht während des Zweiten Weltkriegs. Rumänien begründete im Gegensatz dazu 1922 mit der Krönung seines Königs Großrumänien, einen Nationalstaat, der durch den Kriegsausgang erheblich an Fläche dazugewonnen hatte. Dazu zählten eben auch Bessarabien und die Bukowina. Die damit realisierte Irredentabewegung geriet gleichsam zum Fundament rumänischer Staatlichkeit. Es bleibt jedoch anzumerken, dass der Verlust der Moldau (und der nördlichen Bukowina mit Czernowitz) an die Sowjetunion 1940 nicht in dem Maße in der rumänischen Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert wurde wie die zeitgleich erfolgte Teilung Siebenbürgens.

Die vorliegende Arbeit Meltjuchovs dokumentiert, wie schon das Erscheinungsdatum – 70 Jahre nach der „Befreiung von der rumänischen Okkupation“ (S. 16) – ausdrückt, unzweideutig eine nationale russische Perspektive der Vergangenheit. Schon die Gliederung lässt die tendenziöse Darstellung erkennen. Mel’tjuchov baut seine Studie chronologisch in drei Kapiteln auf: „Raub (19171920)“, „Suche nach einem Kompromiss (19211939)“ und „Befreiung (19391940)“.

Der Autor betont im Vorwort, dass es die Aufgabe der gegenwärtigen russländischen Historiographie sei, den Aufstieg der Sowjetunion „vom Paria der internationalen Gemeinschaft zur zweiten Weltmacht“ aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten (S. 18). Mel’tjuchov meint damit allerdings eine Art der Ehrenrettung für die Sowjetunion (und ihrer Institutionen wie die Roten Armee), was von Anfang an keinen Zweifel an seinem revisionistischen Beitrag zur Geschichtspolitik aufkommen lässt. Andere Institutionen wie NKWD oder SMERŠ, die unmittelbar hinter der Front agierten, werden in dieser Abhandlung ohnedies ausgespart.

Wie schon in seinen vorhergegangenen Arbeiten zwei davon sind im selben Verlag erschienen (Upuščennyj šans Stalina. Sovetskij Sojus i bor’ba za Evropy 1939–1941. Moskva 2000; Sovetsko-pol’skie vojny. Voenno-političeskoe protivostojanie 1918–1939. Moskva 2001) beschäftigt sich Mel’tjuchov vorwiegend mit der sowjetischen Perspektive zu Themen der Zwischenkriegszeit. Die erwähnten Publikationen entziehen sich allerdings in ihrem Inhalt dem Rezensenten. In der vorliegenden Arbeit nimmt sich Mel’tjuchov eines – wie oben bereits erwähnt – weiteren neuralgischen Punktes der sowjetischen Geschichte an. Sie lässt sich aus zwei Perspektiven betrachten. Zum einen aus der quellenkritischen. Der Autor kann zwar auf ein detailliertes Quellenstudium in den Moskauer Archiven (RGVA, GARF, RGASPI) verweisen, wie es zu diesem Thema bislang nicht vorlag. Allerdings erschöpft sich seine Auswertung größtenteils in militärgeschichtlichen Details bis hin auf die Ebene von Tagesbefehlen und waffentechnischer Ausstattung einzelner Truppenteile. Diese vielfach aus den Quellen direkt übernommenen, rein deskriptiven Abschnitte dominieren die Studie in einer erschlagenden Quantität (etwa S. 227–289 und 297–341). Die verwendete Literatur, die sich über den Anmerkungsapparat nur mühsam erschließen lässt, verweist fast ausschließlich auf russische bzw. weithin ältere sowjetische Publikationen zum Thema. Rumänische Arbeiten fehlen de facto gänzlich, obwohl der Autor selbst die Einseitigkeit der Darstellung der rumänischen Historiker kritisiert. Bei der hier zu besprechenden Arbeit ignoriert er etwa zentrale Publikationen aus dem deutschen oder englischsprachigen Raum, die sicherlich auch in Moskau zugänglich sind. Ausgenommen davon ist eine Ausgabe der Akten zur deutschen auswärtigen Politik aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Insofern bleibt Mel’tjuchov zumindest dem Anschein nach dem Titel seiner 1995 in Moskau eingereichten Dissertation treu (Sovremennaja otečestvennaja istoriografija predystorii Velikoj Otečestvennoj Vojny [1985–1995]).

Die Argumentation bewegt sich oftmals in einem geschlossenen Kreis von vornherein klarer Haltungen. So sei der Einmarsch der Roten Armee in die ‚sowjetische‘ Moldau durch die „Bevölkerung Bessarabiens und der Bukowina mit Enthusiasmus und Freude“ willkommen geheißen worden (S. 364). Als Belegstelle für diese Stimmung führt Mel’tjuchov sicherheitsdienstliche Berichte und Meldungen der „Pravda“ (sic!) an. Die Diktion der älteren sowjetischen Literatur bzw. deren Anschauungen werden in diesem Stil ohne kritische Anmerkungen übernommen. Die (ohne Quellangabe) auf dem Umschlag verwendete Photographie unterstreicht dergestalt das propagiert Bild der feierlichen Befreiungsstimmung und erhebt die einseitige Darstellung Mel’tjuchovs aus russischer Perspektive zur letzten historischen Gewissheit, umgeben von einem georteten Meer vermeintlich feindlich gesinnter Historiker-Agitatoren.

Die damit schon angesprochene zweite Perspektive ist wesentlich komplexer und weitestgehend vor dem geschichtspolitischen Hintergrund des neu erstarkten Russlands zu verstehen. Dazu ein paar Zufälligkeiten, die in dieser Publikation aufeinandertreffen. Der Auftraggeber zu dieser Arbeit (Fond istoričeskoj perspektivy) gibt einerseits in seinem Geleitwort die Direktiven der Studie vor: „Die Wiedererrichtung der sowjetisch-rumänischen Grenze […]; die Befreiung von der rumänischen Okkupation und die Wiedervereinigung mit der UdSSR“. Die nötigen Schlagworte werden dementsprechend sowohl im Geleitwort des Fonds als auch wiederholt in der Zusammenfassung des Autors durch fette Lettern hervorgehoben. Andererseits ist das dem Vorwort vorangestellte Motto Mel’tjuchovs, das vom führenden russischen Historiker des beginnenden 19. Jahrhunderts N. M. Karamzin stammt, für seine eigene Studie programmatisch: „Ni pjadi ni vragu, ni drugu!“ (Keine Handbreit, weder dem Feind, noch dem Freund). Ein Motto, das zudem Stalin in seiner Radioansprache am 3. Juli 1941 in paraphrasierender Weise neuerlich aufgriff und das somit in der Kontinuität der Gedanken am Beginn der Arbeit Mel’tjuchovs wohl eine unzweideutige Botschaft vermitteln soll. Des Weiteren setzt sich das Redaktionskollegium u.a. aus Mitgliedern der Akademie der Wissenschaften (V. S. Mjasnikov), dem Rektor der MGIMO, einer dem Außenministerium unterstehende Universität (A. V. Torkunov), einem ehemaligen sowjetischen Botschafter (V. M. Falin) sowie dem stellvertretenden Vorsitzenden der „Kommission des Präsidenten der Russländischen Föderation zur Verhinderung von Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ (I. I. Siroš) zusammen. Zuletzt noch der Verlag selbst, dessen Programm einen russisch-nationalistischen Schwerpunkt aufweist. Die Bezeichnung „Veče“ bezieht sich auf die altrussische Volksversammlung in Novgorod.

Inhaltlich erschöpft sich die Studie in der positiven Darstellung der Befreiung und erinnert stark an Standardpublikationen der Sowjetunion zum Großen Vaterländischen Krieg. Der Hitler-Stalin-Pakt wird relativiert und als diplomatische Notwendigkeit, ja als Erfolg der Sowjetdiplomatie interpretiert (S. 390). Das Ultimatum an Bukarest zur Abtretung Bessarabiens und der Nordbukowina rechtfertigt der Autor mit der als widerrechtlich erfahrenen rumänischen Aggression bzw. Annexion von 1918 (S. 395–396). Hinweise auf die sowjetische Verwaltungspraxis, auf die Deportationen und auf den Aufbau eines politischen Repressionsapparates zwischen 1940 und 1941 fehlen gänzlich oder stehen konsequenterweise außerhalb der präsentierten geschichtspolitischen Perspektive, die sich fast ausschließlich auf diplomatisch-militärische Vorgänge konzentriert und mit dem (ersten) Einmarsch der Roten Armee in Bessarabien endet.

In der Summe liefert die vorliegende Publikation ein geradezu exemplarisches Bild des neuen Russland, das seinen Platz in der Weltgeschichte ein- bzw. zurückfordert (S. 16). Kritische Stimmen werden, stammen sie aus den Reihen der ausländischen Historiker, als einseitig und unsachlich abgetan, kommen sie jedoch aus den eigenen Reihen, marginalisiert (S. 8 und 394). Mel’tjuchovs Buch ist mithin kein ‚Ausreißer‘, sondern Beispiel der gegenwärtig in Russland vorherrschenden heterogenen Stimmung in der Öffentlichkeit und symptomatisch für das systematische Zurückdrängen der ohnedies schwach ausgeprägten Zivilgesellschaft durch die wachsende bürokratische Autokratie. Es existiert noch keine offene Zensur historisch wissenschaftlicher Arbeiten, auch funktionieren die Organe – wie die genannte Präsidialkommission – überaus ineffektiv, aber sehr wohl wird die öffentliche Meinung durch gezielt von staatlichen Stellen geförderte Publikationen wie diese in eine gewünschte Richtung gedrängt. Der daraus mithin erwachsende Ansatz zu Selbstzensur ist weit verbreitet. Letztlich schlägt sich diese offizielle Linie seit 2000 maßgeblich auch in den Schulbüchern nieder und erreicht damit eine enorme Breitenwirkung. Beides weist bedauerlicher Weise in die absolut gegenteilige Richtung zu einer stabilen, modernisierten und offenen Gesellschaft, wie sie selbst russländische Staatsmänner immer wieder vollmundig einfordern.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Michail I. Mel’tjuchov: Bessarabskij vopros meždu mirovymi vojnami 1917–1940 [Die bessarabische Frage zwischen den Weltkriegen 1917–1940]. Moskva: Veče, 2010. 464 S., Ktn., Tab. = Aktual’naja istorija. ISBN: 978-5-9533-5010-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharr_Meltjuchov_Bessarabskij_vopros.html (Datum des Seitenbesuchs)

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