Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kurt Scharr

 

Edith W. Clowes: Russia on the Edge. Imagined Geographies and Post-Soviet Identity. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. XVIII, 179 S., 8 Abb., 1 Kte., 1 Graph. ISBN: 978-0-8014-7725-6.

„Und wo ist Russland?“ (А Россия где?), lässt der russische Schriftsteller Viktor Pelevin seinen Romanhelden Čapaev im Gespräch mit Pjotr Pustota um die Lage Russlands in der Welt fragen, woraufhin Pjotr ohne viel nachzudenken antwortet: „In Schwierigkeiten, Vasilij Ivanovič“ (В беде, Василий Иванович). (Viktor Pelevin: Čapaev i Pustota, Moskva 1996, S. 172.)

Seit den unter M. S. Gorbačev Mitte der 1980er Jahre einsetzenden Reformprozessen stellte sich die langsam entstehende Zivilgesellschaft, die allmählich das Recht auf freie Meinungsäußerung für sich in Anspruch nahm, immer wieder dieselbe Frage nach der Position „Russlands“ in der Welt. Der Frage, ob Russland nun mehr einem der globalen Zentren zuzuzählen sei oder – „on the Edge“ – zur Peripherie gehöre, versucht die amerikanische Slawistin E. W. Clowes, die an der Universität Kansas lehrt, in der vorliegenden Studie nachzuspüren. Weitgehend auf der Basis von literarischen Quellen (unter fallweiser Mitberücksichtigung neuerer populärer russischer Kinofilme) legt Clowes ein kompliziertes Diskursgeflecht innerhalb eines Teils der russischen Gesellschaft offen. Dieses Geflecht schwingt nahezu pendelartig – und in seiner Bewegung fast fatalistisch vorhersehbar – hin und her zwischen der sowjetischen Massenidentität mit ihrer Heilsutopie von einer „helleren Zukunft“, dem nach 2000 in immer dünnerer gesellschaftlicher Luft schwebenden Wunsch nach möglichst breiter kultureller Öffnung und persönlicher Freiheit des Einzelnen zurück zu einem neo-autoritär agierenden Staat, der sich über seinen vermeintlichen Gegensatz zum „Westen“ definiert und sich mit Moskau als Hauptstadt neuerlich isolationistisch ins das „Zentrum der Peripherie“ (S. 117) manövriert.

Die Arbeit ist in sechs Kapitel gegliedert. (Ein Inhaltsverzeichnis findet sich auf der Webseite des Verlages: http://www.cornellpress.cornell.edu) Am Anfang steht die Hauptstadt Moskau im Fokus (Kapitel 1), die sich am Ende des 20. Jahrhunderts – gerade so wie St. Petersburg nahezu neun Jahrzehnte zuvor – im Schmerz um ihre verlorengegangene imperiale Stellung mit einer tiefen Identitätskrise konfrontiert sieht. Innerhalb dieses Spannungsbogens lassen sich auch die darauf folgenden Abschnitte der Studie verorten. Den wieder aufgewärmten und pseudowissenschaftlich verbrämten (neuerdings auch durch V.V. Putin vertretenen) Eurasiendiskurs eines Aleksandr Dugin kontrastiert die Autorin mit den intellektuellen Überlegungen V. O. Pelevins, M. K. Ryklins, L. E. Ulickajas sowie den Äußerungen anderer russischer Schriftsteller und Philosophen zum traditionellen Ost-West-Diskurs. Zu dieser Ausrichtungsebene Russlands (der Clowes in den Kapiteln 24 breiten Raum widmet) gesellt sich mit dem Bürgerkrieg in Tschetschenien ein nord-südlich orientierter Diskurs­strang, der seit Lermontov und Puschkin eine ebenso wirkmächtige Wurzel in der Gesellschaft besitzt (Kapitel 6). Auf einer größeren Maßstabsebene wird dieser ‚globale‘ Richtungsstreit überlagert von der Rolle des Machtzentrums Moskaus innerhalb seines „Reichs“ an der Peripherie bzw. vom Blick der Peripherie des Reiches auf Moskau (Kapitel 1 und 5).

Die von Clowes nur am Rande und wenig systematisch in die Analyse miteinbezogenen Kinofilme (wie etwa S. Bodrov Kavkazkij Plennik 1996; A. Balabanov Vojna 2002) sind als Versuche zu werten, diesen Diskurssträngen, die zu einem gewichtigen, aber nur beschränkte Reichweite besitzenden Teil aus Prosatexten und pseudowissenschaftlichen Publikationen gewoben sind, in ihrer Rezeption bzw. Interpretation durch ein breites gesellschaftliches Medium nachzuspüren. Den ausgewählten Filmen gelingt es denn auch zumeist nur holzschnittartig, die viel tiefer reichenden Gedanken eines Pelevin oder einer Ulickaja aufzugreifen und interpretativ umzusetzen. Vielmehr bleibt in den Filmen die Frage nach der bewussten Rezeption dieses intellektuellen Diskurses einer verschwindet kleinen Zivilgesellschaft im Rahmen einer ‚allgemeinen‘ und kaum reflektierten ‚öffentlichen‘ Meinung unbeantwortet. Andernfalls hätte Clowes dann auch russische Filmproduktionen abseits des ‚Mainstreams‘ (wie A. So­ku­rov Aleksandra 2007) miteinbeziehen müssen; Filme, denen es gelingt, den Diskurs auf einer wesentlich subtileren Ebene zu führen und die bewusst auf die hollywoodartige Aufbereitung verzichten.

Das Russlandbild, das Clowes in ihrer Studie entwirft, wie auch die damit verbundenen Perspektiven bleiben düster, denn „Russian citizens again live in a country where, if they disagree with state policy, they have to defend themselves against the armed forces and police who are supposed to be defending them, their freedom, and their rights“ (S. 163). Das stützt die schon 1990 von Jenö Szücs geäußerte Ansicht einer Dreiteilung Europas, wonach dessen östlichster Part sich dadurch charakterisiert, dass es dort der Gesellschaft am wenigsten gelungen sei, sich von der Bevormundung durch den Staat zu lösen. (Jenö Szücs Die drei historischen Regionen Europas. Frankfurt a. M. 1990, S. 71 ff) Einmal abgesehen von der realpolitischen Situation des gegenwärtigen Russlands, seinen erneut ins Dissidententum abgedrängten Intellektuellen und seiner mehr als marginalisierten Zivilgesellschaft vermag sich letztlich auch die überaus anregende Studie der Sprachwissenschaftlerin Clowes nicht ganz vom ‚heilsgeschichtlichen‘ Gedanken westlicher struktureller Überlegenheit zu lösen.

Kurt Scharr, Innsbruck

Zitierweise: Kurt Scharr über: Edith W. Clowes: Russia on the Edge. Imagined Geographie and Post-Soviet Identity. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2011. XVIII, 179 S., 8 Abb., 1 Kte., 1 Graph. ISBN: 978-0-8014-7725-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharr_Clowes_Russia_on_the_Edge.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Kurt Scharr. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.