Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Claus Scharf

 

Tat’jana S. Ilarionova Rossijskie nemcy v sovetsko-zapadnogermanskich posle­voennych otnošenijach 1945–1961 gg. [Die Russlanddeutschen in den sowjetisch-westdeutschen Beziehungen der Nachkriegszeit der Jahre 1945 bis 1961]. Moskva: MIROS, 2010. 223 S. ISBN: 978-5-91897-015-7.

Die öffentliche Wahrnehmung der sowjetischen Staatsbürger deutscher Nationalität setzte in der Bundesrepublik erst in den Jahren der massenhaften Zuwanderung nach 1989 ein. Insofern verspricht eine aus den Archiven beider Länder schöpfende Forschungsarbeit über die Rolle der Russlanddeutschen in den politischen Beziehungen zwischen der UdSSR und dem westlichen Deutschland vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Bau der Berliner Mauer neue Einsichten. Ihren weiten Interpretationsrahmen lässt die Autorin bereits in der Einleitung erkennen, ausgehend von den Diskriminierungen der Deutschen in der stalinistischen Sowjetunion seit dem Aufstieg des Nationalsozialismus im Deutschen Reich. Als die Parteiführung neben anderen Volksgruppen auch die deutsche Bevölkerung bei Kriegsbeginn pauschal verdächtigte, massenhaft mit dem Feind zu kollaborieren, wurden die Russlanddeutschen aus ihren Wohnplätzen im europäischen Teil der UdSSR zur Zwangsarbeit in „spezielle Siedlungsgebiete“ (specposelenija) in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien deportiert. Da diese kollektive Bestrafung über das Kriegsende hinaus bis 1991 fortgesetzt wurde, die UdSSR ihren deutschen Staatsbürgern nur in Etappen einzelne rechtliche Verbesserungen gewährte, und auch die Russische Föderation bis heute weder ihre Eigentumsrechte wiederhergestellt, noch die Rückkehr in die alten Siedlungsgebiete zugelassen oder gar die Autonome Wolga-Republik wiedererrichtet hat, zieht die Autorin die bittere Konsequenz, dass letztlich nur die Ausreise in die Bundesrepublik möglich war.

Doch dann spiegelt das Buch die reale Geschichte insofern wider, dass in der ersten Hälfte des Hauptteils von den eigentlichen Russlanddeutschen gar nicht mehr die Rede ist. Stattdessen wird, wenn auch etwas unübersichtlich gegliedert, das Schicksal aller anderen Kategorien von internierten Deutschen in der Sowjetunion erwähnt: von den im Großen Terror seit 1937 der Spionage verdächtigten „Spezialisten“, die im Rahmen der wirtschaftlichen Beziehungen in der UdSSR arbeiteten, bis zu jenen, die sowjetische Militärgerichte in der SBZ und DDR bis zum Tode Stalins zu Lagerhaft und Zwangsarbeit in der Sowjetunion verurteilten. Zahlenmäßig überwogen jedoch drei andere Gruppen. Dass sich frühere Bewohner der baltischen Republiken, Ostpolens, der Bukowina und Bessarabiens auf ihre deutsche Nationalität beriefen, erkannten die sowjetischen Stellen bei der Bevölkerungsverschiebung in der Folge des Hitler-Stalin-Paktes nicht an und deportierten sie noch vor dem Juni 1941 in industrielle Zentren überwiegend jenseits des Urals. 1944 bis 1946 wurden fast 190.000 „volksdeutsche“ Zivilisten aus Südosteuropa, Ostpreußen und Oberschlesien zur Zwangsarbeit verschleppt, und schließlich rechtfertigte man nach Kriegsende auch die körperliche Arbeit der insgesamt mehr als drei Millionen deutschen Kriegsgefangenen als Vorschuss auf Reparationsleistungen. Erweitert wird die Sicht sogar auf die Repatriierung der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter aus dem Reich und eines Teils der „alten Emigration“ aus vielen Ländern seit 1945. Grundsätzlich wurden alle, die außerhalb des jeweiligen sowjetischen Machtbereichs gelebt hatten, in der Sowjetunion seit 1944/45 des Landesverrats beschuldigt, zumal heimkehrende Ukrainer und Kosaken, die im Kriege die deutsche Staatsangehörigkeit erworben, staatenlos im Deutschen Reich gelebt oder gar in der Wehrmacht gedient hatten. Im beginnenden Kalten Krieg genügte auch der Verdacht, Kontakte zu Stellen in den USA zu haben, um in Ungnade zu fallen. Der diskriminierende Umgang des Sowjetsystems mit seinen eigenen Staatsbürgern und Landsleuten dient der Autorin als dunkle Folie, vor der sich die Aufnahmebereitschaft der Westzonen sowie die Zuwanderungs- und Integrationspolitik der Bundesrepublik gegenüber grundsätzlich allen Deutschen als besonders human und vorausschauend abheben. Positiv werden die entsprechende Gesetzgebung, die Behördenstruktur, die Aufnahmepraxis, die Mitwirkung des Deutschen Roten Kreuzes und auch die – von der Autorin akzeptierte Rolle der Landsmannschaften beschrieben, wobei russische und deutsche Leser in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wahrscheinlich viel Neues erfahren.

Die Logik der Darstellung besteht letztlich darin, dass die Autorin mit der Aufnahme von Millionen Deutschen in den Nachkriegsjahren und nicht zuletzt mit einer wachsenden Anzahl von Flüchtlingen aus der DDR erklären will, warum das Schicksal der Russlanddeutschen in der Bundesrepublik nicht früher auf die Agenda kam. Erst mit Stalins Tod hätten sich überhaupt Chancen für direkte Kontakte zur sowjetischen Führung ergeben, und dann sei, diplomatisch und publizistisch mit Japan abgestimmt und von den beginnenden Wirtschaftsbeziehungen begünstigt, der Rückführung der verbliebenen knapp 10.000 Kriegsgefangenen Vorrang eingeräumt worden. Angesichts der sowjetischen Offerten von 1955, die Beziehungen zu „normalisieren“, hätten für die Bundesregierung die Westbindung und die Nichtanerkennung der DDR sowie der Oder-Neiße-Grenze nicht zur Disposition gestanden. Zu einem Höhepunkt ihrer Darstellung gestaltet die Autorin die Auswertung einer von Adenauer diktierten nachträglichen Aufzeichnung aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes über seine Moskauer Verhandlungen vom 12. September 1955. Danach habe er sich durchaus nicht nur für die Heimkehr der Kriegsgefangenen, sondern auch vehement für das Recht der deutschen Sowjetbürger auf Ausreise in die Bundesrepublik eingesetzt. Doch wegen der Empörung vor allem Chruščevs über das Ansinnen habe er nicht den Abbruch der Gespräche provozieren wollen und schließlich auf ein längerfristiges diplomatisches Vorgehen vertraut. Immerhin sei in den Folgejahren durch die Botschafter Haas und Lahr die Ausreise, wenn auch nicht von Russlanddeutschen, so doch von Tausenden ehemaliger deutscher Staatsbürger im Rahmen von einzeln beantragten Familienzusammenführungen in die beiden deutschen Staaten erreicht worden, bis die sowjetische Seite diese Aktionen am 1. August 1960 einseitig beendet habe.

Die Stärken des Buches liegen in den konkreten Funden aus den Archiven und manchen für deutsche Historiker überraschenden Kommentaren der Autorin, nicht gerade in der Skizzierung der internationalen Beziehungen und der Charakterisierung der politischen Systeme in Kriegs- und Nachkriegszeit. Handwerklich bedenklich sind das beliebige Zitieren der Forschungsliteratur und zahlreiche Druckfehler auch im russischen Text.

Claus Scharf, Mainz

Zitierweise: Claus Scharf über: Tat’jana S. Ilarionova Rossijskie nemcy v sovetsko-zapadnogermanskich posle­voennych otnošenijach 1945–1961 gg. [Die Russlanddeutschen in den sowjetisch-westdeutschen Beziehungen der Nachkriegszeit der Jahre 1945 bis 1961]. Moskva: MIROS, 2010. 223 S. ISBN: 978-5-91897-015-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharf_Ilarionova_Rossijskie_nemcy.html (Datum des Seitenbesuchs)

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