Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Claus Scharf

 

Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg / Andreas Gestrich / Helga Schnabel-Schüle. Osnabrück: fibre, 2013. 416 S., 3 Ktn.. ISBN: 978-3-938400-64-7.

Inhaltsverzeichnis:

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In der ersten Strophe seines Versepos Pan Tadeusz bekennt der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz, geboren 1798 im weißrussischen Nowogródek, das im Register des Sammelbandes als Navahrudak geführt wird, seine Liebe zum Vaterland Litauen. Das Beispiel greifen Herausgeber und Autoren nicht explizit auf, aber es belegt, woran es nie Zweifel geben konnte: Zwischen 1772 und 1795 wurde Polen-Litauen aufgeteilt. Insofern haben die Herausgeber das Faktum weder entdeckt noch erfunden. Allerdings lenken sie mit der Neubenennung des Objekts der Teilungen und mit ihrer Auswahl der Beiträge, von denen einige aus Drittmittelprojekten an der Universität Trier hervorgingen, die Aufmerksamkeit darauf, dass neben Polen heute auch Litauen, Belarus und die Ukraine historische Elemente ihrer jungen staatlichen Souveränität in der Rzeczpospolita finden können. Der sich aufdrängende Gedanke, dass das Territorium der einstigen Adelsrepublik also noch immer geteilt ist, wird allerdings nicht erörtert. Zudem hat die Konzentration des Bandes auf die vier Nachfolgestaaten und ihre Nationen den Nachteil, dass der in der Einleitung kurz erwähnte multiethnische Charakter der polnisch-litauischen Union in den Beiträgen nicht konsequent über die Teilungen hinaus verfolgt wird. Immerhin trug König Stanislaus II. August noch in der Mai-Verfassung von 1791 den längst nicht mehr aktuellen Titel eines dreizehnfachen Großfürsten, so von Preußen, Livland und nicht nur der „Rus“, sondern auch von Kiev und Smolensk. Vor einigen Jahren machte schon Rex Rexheuser darauf aufmerksam, dass „rund zwei Drittel“ der Bevölkerung des geteilten Staates „in ethnisch-sprachlicher Hinsicht keine Polen waren“, und nahm dann neben Ukrainern und Litauern die Deutschen und die Juden in den Blick (Rex Rexheuser Die Bedeutung der Teilungen Polens für die nichtpolnische Bevölkerung der Adelsrepublik, in: Eduard Mühle [Hrsg.]: Mentalitäten – Nationen – Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Beiträge eines Kolloquiums zum 65. Geburtstag von Hans Lemberg. Marburg 2001, S. 13–25, hier S. 13). Doch seit der weitesten Ausdehnung der Union wechselten bis 1795 außerdem estnische, lettische, weißrussische, russische, masurische, kaschubische, goralische, tschechische, slowakische, rumänische, armenische und tatarische Untertanen Polen-Litauens unter die Herrschaft der drei Teilungsmächte.

Im Widerspruch zu den Herausgebern, die im ersten Satz ihrer Einleitung behaupten, die Teilungen seien „im 19. und 20. Jahrhundert in der europäischen Öffentlichkeit wie in der Fachwissenschaft nur selten als zentrales Ereignis der europäischen Geschichte wahrgenommen worden“, beginnt ein Überblick von Markus Krzoska über die internationale Historiographie mit der Aussage, „schon“ Zeitgenossen hätten die Teilungen als „ein einschneidendes Ereignis der europäischen Geschichte“ angesehen. In der Tat belegt der Autor dann auf 68 Seiten, dass das Thema in der Geschichtswissenschaft von 1795 bis 2011 trotz schwankender Konjunktur kontinuierlich auf der Tagesordnung blieb, zumal polnische Historiker bis 1918 die Ursachen der Teilungen unterschiedlich beurteilten und nichtpolnische Historiker sich entscheiden mussten, ob sie sich über den Gewaltakt entrüsten oder Verständnis für die Teilungsmächte zeigen sollten. Verdienstvoll wäre Krzoskas Summe bereits als bibliographie raisonnée wegen der Vielzahl der angeführten Titel und der Übersichten über aktuelle Forschungen aus Polen, Litauen und Weißrussland. Doch nicht immer überzeugt die Auswahl der erwähnten Werke: So kommen Roman Rosdolsky, Marceli Kosman und Hamish Scott gar nicht vor, und unerwähnt bleiben die kritischen Äußerungen von Aleksandr Kamenskij, einem führenden russischen Historiker für das 18. Jahrhundert, über die Polenpolitik Katharinas II. und die neuen Forschungen über Potemkins Polenprojekte von Olga Eliseeva. Manchmal ist der Kommentar dünn und nicht immer frei von Fehlern, die den Leser veranlassen können, auch andere Urteile des Autors in Zweifel zu ziehen: Nikolaj Kareev, berühmt geworden als Historiker der französischen Bauern vor 1789, schrieb zwar auch über die Theorie der Geschichte, war aber kein Philosoph; Vasilij Bilbasov, der als Mediävist Ranke verehrte, arbeitete einige Jahre als Zeitungsredakteur, bevor er als Biograph Katharinas II. berühmt wurde, war aber kein Literaturwissenschaftler, und Vasilij Osipovič Ključevskij hieß richtig so wie in der Anmerkung und nicht wie im Text Nikolaj (alle Beispiele S. 68).

Eher in den Kontext der polnisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen des 19. Jahrhunderts gehört als einer der besten Beiträge Matthias Barelkowskis Doppelbiographie der beiden Ranke-Schüler Richard Roepell und Jakob Caro, die nacheinander über sieben Jahrzehnte an der Universität Breslau überwiegend die Geschichte Polens lehrten, auch polnische Studenten unterrichteten und in Polen bis heute größere Anerkennung genießen als in Deutschland.

Weil die Herausgeber auf der Suche nach „Forschungslücken“ die Geschichte der Mächte und des Staatensystems für hinreichend bearbeitet halten und neue diplomatiegeschichtliche Erkenntnisse höchstens noch von russischen Archivalien erwarten, handeln die meisten Beiträge von der geteilten Rzeczpospolita statt von den „Teilungen“. Eine Ausnahme bildet ein Beitrag von Dominik Collet über die Hungersnot der Jahre 1770–1772, die der Autor als bislang kaum gewichteten Faktor im Prozess der Ersten Teilung überzeugend interpretiert. Zwar sei auch in Preußen gehungert worden, doch habe dessen Vorsorge durch Magazine und Reserven Friedrich II. gegenüber seinen Nachbarn Vorteile verschafft. Zudem habe Preußen schon 1770/71 in einem Cordon sanitaire auf polnischem Territorium Getreide akquiriert und erst recht nach 1772 mit den annektierten Anbaugebieten die Chancen des Königs vermehrt, durch gesteuerte Verteilungen und diktierte Getreidepreise über In- und Exklusion zu entscheiden. Natürlich unterstützt diese Deutung nolens volens das schon zeitgenössische Argument, in der Handlungsfähigkeit sei Friedrichs absolutistisch regierter Militär- und Beamtenstaat der Adelsrepublik überlegen gewesen. Da der Autor aber „Borussophilie“ kritisch meint, sollte der Historiker Ernst Hinrichs (1937–2009) gegen diesen Vorwurf (S. 156) in Schutz genommen und nicht mit Carl Hinrichs (1900–1962) verwechselt werden.

Einen wichtigen Schritt zu einer synthetisierenden Geschichte der Teilungsgebiete bedeutet Hans-Jürgen Bömelburgs komparativer Überblick über die Verwaltung und die Gesellschaftspolitik der drei Mächte in den 1772 annektierten Territorien bis zur Gründung des Herzogtums Warschau. Obwohl bei weitem weniger moderne Untersuchungen für die weißrussischen Gouvernements Polack und Mahilëŭ vorliegen als für Westpreußen oder Galizien und Lodomerien, kommt der Autor in seiner Forschungsbilanz anhand von gedruckten Quellen und von österreichischen, preußischen und einzelnen polnischen Archivalien zu einem überraschenden vorläufigen Schluss für das leitende Thema In- und Exklusion: Die Regierungspraxis Russlands war im Vergleich mit der habsburgischen und der preußischen kaum von ausgrenzenden Stereotypen geprägt, respektierte mehr als jene nach anfänglichen Friktionen rechtliche Traditionen und regionale kulturelle Bedürfnisse, schloss den Aufstieg polnischer Magnaten in die Petersburger hofnahe Adelsgesellschaft nicht aus, begünstigte zwar russische Gutsbesitzer bei der Verteilung polnisch-litauischer Staatsgüter, verdrängte aber nicht etwa systematisch die landsässige grundbesitzende Elite und duldete das Polnische als Amtssprache.

Diese Thesen werden durch mehrere Autoren gestützt, zunächst durch einen aspekt­reichen Beitrag von Viktor N. Gajdučik und Matthias Barelkowski über die Gouvernements Vicebsk und Mahilëŭ. Seit dem Siebenjährigen Krieg hatte die Grenze an Düna und Dnepr aus strategischen Gründen und wegen der Bauernflucht hohe Priorität in Petersburg, so dass die Regierung die beiden Gouvernements auch bei späteren Neugliederungen nie wieder preisgab. Stärker noch könnte hervorgehoben werden, dass die Formen ihrer administrativen Integration eine bedeutende Rolle in der unmittelbaren Vorgeschichte der gesamtstaatlichen Gouvernementsreform von 1775 spielten. 1794 im Kościuszko-Aufstand und noch 1812 erwies sich hier der Adel als relativ loyal gegenüber der Petersburger Regierung. Doch aus den Dokumenten der Gouvernementskanzleien im Nationalen Historischen Archiv von Belarus in Minsk gelingt den Autoren dann eine dicht belegte und regional differenzierende Darstellung der Geschichte der Geheimgesellschaften im ehemaligen Großfürstentum Litauen, die sich in den 1820er Jahren zunehmend politisierten, und des Aufstands von 1830/31, der ein eigenständiges Zentrum in Wilna hatte, während die weißrussischen Gouvernements wiederum nur schwach von der Bewegung erfasst wurden. Aber in allen Provinzen beendete die Repression nach dem Aufstand von 1830/31 jegliche Ansätze zu einer historische Unterschiede tolerierenden Politik des Imperiums. Für jenen Raum der Westukraine, der in Russland als „rechtsufrig“ und in Polen als kresy bezeichnet wird, untersucht Andriy Portnov in Ego-Dokumenten polnischer Adliger, in publizistischen und staatlichen Quellen sowie in russischen literarischen Zeugnissen von der Ersten Teilung bis 1830/31 nationale Zuschreibungen und achtet vor allem auf den Wandel ethnischer, nationaler, ständischer und konfessioneller Begriffe. Dabei kommt er neben vielen beiläufigen Erkenntnissen zu dem Schluss, dass in diesem Zeitraum und in dieser Region das Ideal einer Interessengemeinschaft des polnischen Adels und der russischen Regierung letztlich überwogen habe. Der Staat habe an der ständischen Verfasstheit der Gesellschaft festgehalten und ordnungspolitisch weiter auf die Gutsbesitzer gebaut, also nicht etwa die ostslavische oder orthodoxe Gemeinsamkeit mit den ukrainischen Bauern betont, die, wenn sie überhaupt ethnisch als die „Unseren“ identifiziert wurden, in den Quellen kaum wahrnehmbar seien.

Als Teilergebnisse größerer Forschungsvorhaben erscheinen die Beiträge von Daniela Druschel über die Einführung des habsburgischen Rechts in Galizien und Lodomerien nach 1772 und im sog. Westgalizien nach 1795 sowie von Roland Struwe über die Institutionalisierung des Justizwesens in Süd- und Neuostpreußen nach 1793 und 1795. Beide Regierungen zielten auf eine Rechtsvereinheitlichung, suchten die Erfahrungen aus der ersten Annexion bei der folgenden zu nutzen und wurden mit der Schwierigkeit konfrontiert, zweisprachiges Personal zu rekrutieren. Als ein zusätzliches Problem in Galizien erwies sich, dass seit dem letzten Lebensjahr Josephs II., nicht zuletzt aus finanziellen Gründen, dort wie in der gesamten Monarchie die vorausgegangene Reformgesetzgebung des Josephinismus schrittweise revidiert wurde, bis 1812 das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft trat. Doch unübersichtlich ist auch die in allen Details korrekte Darstellung von Daniela Druschel durch permanente zeitliche Rückblenden, und außerdem trocken durch die Beschränkung auf den „normativen Bereich“, die zur Folge hat, dass die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe für die verschleppten Neuerungen, so die in der Einleitung der Herausgeber avisierten „Konflikte mit den ansässigen Landeseliten“ (S. 34), nur zu erahnen sind. Auch Roland Struwe lehnt sich erstaunlich eng an die Verwaltungsgeschichte von Ingeburg Charlotte Bussenius an. Hingegen fehlt ein deutlicher Bezug zu den einst von Reinhard Koselleck, keinem Experten für Polen, herausgearbeiteten Friktionen zwischen der traditionalen ständischen Gesellschaft und dem aufgeklärt-absolutistischen Programm von „Ständen des Staates“ nach der Einführung des Allgemeinen Preußischen Landrechts, also in ganz Preußen auch die Erwähnung der Rivalität zwischen Staat und Gutsherren um die Erträge bäuerlicher Arbeit, um die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit. Im Anschluss an seine früheren Veröffentlichungen weist Bernhard Schmitt für den Zeitraum bis 1806 nach, dass Preußen und das Habsburgerreich zwar grundsätzlich Offiziersnachwuchs gewinnen wollten, doch im gesellschaftpolitischen Interesse einer Konsolidierung des Adels die zahlreichen besitzlosen und landarmen polnischen Adligen von standesgemäßen Offizierskarrieren ausschlossen. In Preußen wurden sie kantonpflichtig, in der Habsburgermonarchie nicht in die Matrikel aufgenommen. Für die Söhne aus vermögenden Familien boten sich in Preußen durchaus Chancen für den Aufstieg im Militärdienst über die Kadettenanstalten oder aktive Truppenteile, im Habsburgerreich sogar auch für zivile Ämter.

Abschließend plädiert Jörg Ganzenmüller am Beispiel des polnischen Adels im Russischen Reich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Gegensatz zu dem idealtypischen, auf Eindeutigkeit zielenden Begriffspaar In- und Exklusion unter den sozialwissenschaftlichen Theorieangeboten für das seiner Meinung nach flexiblere Konzept sozialer Integration. Erst unter Nikolaus I. sei der Staat von der traditionalen pragmatischen Integrationspolitik gegenüber den Eliten des Imperiums zu einer normativen Integrationspolitik übergegangen. Genoss der polnische Adel zuvor gleich dem russischen durch den Staatsdienst definierte ständische Privilegien, so sei er seither zunehmend „zur Übernahme der zarischen Werte und Normen“ und zu einer kulturellen Anpassung gedrängt worden. Obwohl Ganzenmüllers Argumentation überzeugt, spricht auch viel für eine quellennahe Terminologie als dritten Weg: Ob ein polnischer Adliger exkludiert wurde oder seine Integration scheiterte, ist allemal weniger konkret, als dass er enteignet, verbannt oder in die Emigration getrieben wurde.

Claus Scharf, Mainz

Zitierweise: Claus Scharf über: Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Hrsg. von Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich und Helga Schnabel-Schüle. Osnabrück: fibre, 2013. 416 S., 3 Ktn.. ISBN: 978-3-938400-64-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Scharf_Boemelburg_Die_Teilungen_Polen-Litauens.html (Datum des Seitenbesuchs)

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