Jahrbücher für GeschichteOsteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Friederike Sattler

 

Vincent Barnett, Joachim Zweynert: Economics in Russia. Studies in Intellectual History. Aldershot, Hampshire: Ashgate, 2008. 220 S. ISBN: 978-0-7546-6149-8.

Die Geschichte des ökonomischen Denkens in Russland ist ein bisher vernachlässigtes Forschungsfeld. Vincent Barnett und Joachim Zweynert, die in den letzten Jahren beide mit einschlägigen Arbeiten hervorgetreten sind, unternehmen mit dem vorliegenden Band den verdienstvollen Versuch, die wichtigsten Grundzüge der Entwicklung vom 16. bis in das späte 20. Jahrhundert hinein nachzuzeichnen. Ihr Anliegen besteht zugleich darin, zwei gängige, aber recht unterschiedliche Interpretationsmuster kritisch zu hinterfragen: Dem einen Muster zufolge vollzog die russische Wirtschaftswissenschaft bis in das späte 19. Jahrhundert hinein in erster Linie nach, was zuvor an Modellen und Erklärungsansätzen in den westlichen Wirtschaftswissenschaften vorgedacht worden war, dem anderen Muster zufolge war die russische Wirtschaftswissenschaft von einem ganz eigenständigen nationalen Denk- und Wirtschaftsstil geprägt. Die sowjetische Historiografie griff beide Muster auf und wies sie unterschiedlichen sozialen Trägerschichten zu: „Rückständige“, bürgerlich geprägte Ökonomen wurden von ihr zu bloßen Epigonen westlicher Vorbilder abgestempelt, „fortschrittliche“, marxistisch-leninistisch geprägte Ökonomen dagegen zur Avantgarde der internationalen Entwicklung erklärt. Das Interesse an einer nüchternen Analyse und historisch-kritischen Würdigung des autochthonen russischen ökonomischen Denkens im Kontext der internationalen Entwicklung ging so weitgehend verloren, auch bei westlichen Wirtschafts- und Wissenschaftshistorikern; erst nach dem Ende der Sowjetunion konnte es wiederbelebt werden.

Die insgesamt elf Beiträge des Bandes, die von einer kurzen Einleitung und einem noch viel kürzeren Schlusswort der Herausgeber eingerahmt werden, decken inhaltlich ein sehr weites Spektrum ab. Danila Raskov präsentiert die moskowitische Wirtschaftslehre des 16. und 17. Jahrhunderts als integralen Bestandteil religiöser und politischer Diskurse. Vorstellungen von Eigentum, Geld und Handel waren zu dieser Zeit noch immer stark von religiösen und machtpolitischen Erwägungen bestimmt, sie können nicht als eigenständiges ökonomisches Denken, vergleichbar dem in Westeuropa anzutreffenden Merkantilismus, eingestuft werden. Erst mit den Reformen Peters I. und Katharinas II. im Zeitalter der Aufklärung erhielt das ökonomische Denken in Russland, wie Leo­nid Shirokorad darlegt, einen zunehmend säkularen, eigenständigen Charakter. Da es weiterhin in den Dienst der Förderung des absolutistischen Staates gestellt wurde, kann jedoch im 18. Jahrhundert noch immer nicht von einer unabhängigen russischen Wirtschaftswissenschaft die Rede sein. Alla Sheptun widmet sich drei herausragenden russischen Währungsreformern: M. M. Speransky, N. S. Mordvinov und N. K. Bunge. Sie kann zeigen, dass deren stark liberal beeinflusste, aber dennoch auf den Staat als Hauptakteur setzenden Ideen einen maßgeblichen Beitrag zur Etablierung wichtiger Insti­tutionen des Geld- und Kreditwesens im Übergang zur Industrialisierung Russlands am Ende des 19. Jahrhunderts leisteten. Joachim Zweynert sieht die russische akademische Wirtschaftslehre im 19. Jahrhundert generell zwischen Rationalismus und Historizität schwanken, also am Gedanken der universellen Gültigkeit wirtschaftlicher Gesetze festhalten, ohne jedoch die historischen Besonderheiten der russischen Wirtschaftsentwicklung aus dem Blick zu verlieren. Am Beispiel einzelner Gelehrter und ihrer Lebenswege verdeutlicht er die starken transnationalen Wechselwirkungen, die zu dieser Zeit zwischen der russischen und der deutschen Wirtschaftswissenschaft bestanden. Natalia Makasheva befasst sich mit der Renaissance religiöser und ethischer Überlegungen in der russischen Wirtschaftslehre an der Schwelle zum 20. Jahrhundert.

Den Auftakt für sechs weitere Beiträge zur Zeit nach der Revolution von 1917 machen William Coleman und Anna Taitslin mit einer Studie zu dem umstrittenen Ökonomen A. V. Chayanov, der mit radikalen agrarischen Utopien hervortrat und gerade bei westlichen Intellektuellen des linken Spektrums viel gelesen wurde. Angemessene Aufmerksamkeit wird auch jenen namhaften russischen Ökonomen gewidmet, die unmittelbar nach der Revolution in die Emigration gingen: Vincent Barnett fragt nach der Wirkung, die von den Arbeiten S. S. Kuznets, J. Marschaks und W. W. Leontiefs auf die westeuropäische und amerikanische Wirtschaftswissenschaft ausging; sie war markant, etwa im Bereich der Konjunkturforschung, und sie zeigt zudem, dass es keine unüberwindbaren methodologischen Gräben zwischen der russischen und den westlichen Traditionen in den Wirtschaftswissenschaften gab. Shuichi Kojima beschäftigt sich mit den Werken von B. D. Brutzkus und S. N. Prokopovich und arbeitet heraus, dass sie jeweils unterschiedlichen, aber erheblichen Einfluss auf die ersten westlichen Analysen zur sowjetischen Wirtschaft besaßen. Mit grundsätzlichen Fragen der politischen Ökonomie und der poststalinistischen Wirtschaftsreformen befassen sich Michael Kaser und Pekka Su­tela. Sie rufen in Erinnerung, in welchem hochgradig politisierten, einschüchternden und für den einzelnen Wissenschaftler letztlich lebensgefährlichen Klima ökonomische De­batten in der Sowjetunion häufig stattfanden. Sie zeichnen damit zugleich den intellektuellen Niedergang der Disziplin nach, auch wenn es in den 1960er und 1970er Jahren durchaus Ansätze zu einer methodischen, vor allem mathematisch, neoklassisch inspirierten Erneuerung in Anlehnung an die internationale Entwicklung der Wirtschaftswissenschaften gab. Andrey Zaostrovtsev schließlich gibt einen Überblick über die wachsende Vielfalt des ökonomischen Denkens der postsowjetischen Zeit bis in die Gegenwart hinein, wobei der wieder aufkommende russische Nationalismus nicht nur Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik, sondern auch auf die Wirtschaftswissenschaften zeitigte und hier für teils erstaunliche Kontinuitäten sorgte, etwa mit Blick auf die negative Beurteilung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen.

Eine Einbettung des ökonomischen Denkens in die jeweiligen historischen – politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen – Kontexte wird leider von den meisten Beiträgen nur sehr skizzenhaft vorgenommen. Wie sich ökonomisches Denken, wirtschaftliche Institutionen und alltägliche wirtschaftliche Praktiken als die drei wesentlichen, sich wechselseitig ermöglichenden und zugleich bedingenden Momente historischer Dynamik gegenseitig beeinflussten, wird deshalb nicht wirklich transparent. Stellenweise schimmert ein essentialistisches Wissenschaftsverständnis durch. Den Herausgebern gelingt es aber, auf der Grundlage der einzelnen Beiträge ebenso knapp wie überzeugend herauszuarbeiten, dass das ökonomische Denken in Russland eine eigene Wissenschaftstradition begründete, nicht zuletzt, weil es immer auf die Wirtschaftsentwicklung Russlands bezogen blieb; von einem besonderen nationalen Denkstil kann aber nicht die Rede sein, vielmehr bestanden zahlreiche intellektuelle Wechselbeziehungen mit den westlichen Wirtschaftswissenschaften. Aufgabe bleibt es, sie noch eingehender als dynamischen, in die historischen Kontexte eingebetteten Prozess zu erforschen.

Friederike Sattler, München

Zitierweise: Friederike Sattler über: Vincent Barnett, Joachim Zweynert: Economics in Russia. Studies in Intellectual History. Aldershot, Hampshire: Ashgate, 2008. 220 S. ISBN: 978-0-7546-6149-8., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sattler_Barnett_Zweynert_Economics_in_Russia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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