Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Daria Sambuk, Halle (Saale)

 

Polša i Rossija v pervoj treti XIX veka. Iz istorii avtonomnogo Korolevstva Polskogo. 1815–1830. Otv. red. Svetlana M. Falkovič. Moskva: Indrik, 2010. 583 S., Tab. ISBN: 978-5-91674-087-5.

Der Wiener Kongress brachte 1815 zum ersten Mal seit 1795 den Namen Polen zurück auf die europäische Karte. Aus dem von Napoleon geschaffenen Herzogtum Warschau kreierten die Siegermächte das Königreich Polen, einen halbsouveränen Staat, der in Personalunion mit dem Russischen Reich verbunden war. Obwohl das Königreichim Russischen: ZartumPolen eine eigene Verfassung erhielt, währte seine Autonomie nicht lange: Nach dem Novemberaufstand des Jahres 1830 wurde es ans Russische Reich angeschlossen und nach der Erhebung von 1863/1864 unter dem Namen Weichselgebiet vollends in dessen Struktur inkorporiert.

Ein Autorenkollektiv des Instituts für Slawische Studien an der Russischen Akademie der Wissenschaften hat den ersten fünfzehn Jahren der Existenz des Königreichs Polen eine umfangreiche Monographie gewidmet. Der Fokus auf diese Zeitspanne ist überaus legitim, denn bisher hat sich die Geschichtswissenschaft des sogenannten Kongresspolens meist entweder nur als einer transitorischen Episode im Rahmen von Gesamtdarstellungen angenommen oder einen Schwerpunkt auf die Aufstände gelegt.

Als zentrale Frage definiert die Herausgeberin Svetlana Falkovič die Vereinbarkeit des autokratischen Herrschaftsprinzips und der konstitutionellen Verfasstheit. Etwas befremdlich wirkt die Legitimierung dieser Problemstellung allerdings durch das aktuelle Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Russland sowie die Möglichkeit, aus der historischen Erfahrung Lehren für die Gegenwart zu ziehen (S. 7–8).

Das Aufeinandertreffen des Zarenreichs und des neuen polnischen Staates, ihrer politischen und wirtschaftlichen Systeme und schließlich ihrer Einwohner will die vorliegende Monographie in seiner ganzen Breite untersuchen. Diesem Streben nach Vollständigkeit entsprechend ist die Studie handbuchartig angelegt: In sieben großen Kapiteln schreitet sie von der Gründung des Königreichs auf dem Wiener Kongress über Beschreibungen der sozialen Struktur und der Wirtschaft, die Darstellung der politischen Institutionen des Königreichs zum Wechselspiel der polnischen Gesellschaft mit der zarischen Verwaltung, dem Kulturleben und den Kontakten zwischen Russen und Polen. Im Anhang ist die Verfassung des Königreichs Polen abgedruckt.

Galina Makarova stellt im ersten Kapitel den Weg zur Gründung des Königreichs dar. Im Mittelpunkt steht die Rolle Adam Czartoryskis bei der Formulierung der russischen Polenpolitik sowie deren gesamteuropäischer Kontext. Widersprüchlich fällt die Wertung der Verfasserin aus, die zunächst feststellt, dass das Ergebnis des Wiener Kongresses in der polnischen Frage auf die komplexe politische Situation zurückzuführen sei (S. 85), und anschließend die Gründung des Königreichs Polen dem persönlichen Durchsetzungsvermögen Alexanders I. zuschreibt (S. 97).

Das von Boris Nosov verfasste Kapitel zur sozialen Struktur des Königreichs hat vor allem enzyklopädischen Wert. Es enthält detaillierte Angaben zu den einzelnen sozialen Schichten, die auch in Form von zahlreichen Tabellen erscheinen. Kurz geht Nosov auf Veränderungen des sozialen Gefüges durch die neue Staatlichkeit ein, etwa in Bezug auf den Adel, dessen untere Schichten sich immer stärker von ihrem Stand lösten und sich den unprivilegierten Bevölkerungsgruppen näherten. Als einziger Autor des Buches betreibt Nosov in diesem Zusammenhang Quellenkritik.

Das dritte Kapitel, aus der Feder von Ljudmila Marnej, ist den Entwicklungen in der Wirtschaft des Königreichs gewidmet. Dieser Abschnitt bietet eine umfangreiche Datensammlung zu den einzelnen Wirtschaftszweigen. Das Russische Reich dient als Vergleichsfolie, wobei gelegentlich auch die Wechselwirkungen zwischen den beiden Wirtschaftsräumen thematisiert werden.

In seinem zweiten Beitrag zu diesem Band schildert Nosov auf der Grundlage der Verfassung des Königreichs dessen politische Struktur. Dabei zieht er die polnische Verfassung vom 3. Mai 1791 als Vergleich heran. In die Darstellung der Strukturen werden biographische Skizzen einzelner Würdenträger eingeflochten.

Die Herausgeberin Svetlana Fal’kovič widmet sich in einem eigenen Kapitel den Stimmungen in der polnischen Bevölkerung des Königreichs. Das unterschiedliche Verständnis von den konstitutionell verbrieften Rechten löste bereits wenige Jahre nach dem Wiener Kongress Konflikte zwischen Teilen der polnischen Eliten und der zarischen Macht aus. Allgegenwärtige Ängste vor einer Revolution veranlassten Alexander I., die Autonomie des Königreichs immer mehr zu beschneiden, was eine immer größere Enttäuschung und Opposition auf polnischer Seite hervorrief.

Von Olga Kaštanova stammt das Kapitel zum Kulturleben im Königreich. Unter Kultur werden hier Bildungseinrichtungen, Theater, Musik und bildende Kunst verstanden. In allen Bereichen der polnischen Hochkultur stellt die Autorin eine stärkere Verankerung des nationalen Gedankens fest.

Das letzte Kapitel, von Natalija Filatova verfasst, ist den Kontakten zwischen Russen und Polen gewidmet. Die Wahrnehmung des Anderen war bei den Polen durch die Erfahrung der Teilungen geprägt. Auf russischer Seite wirkten antipolnische Ressentiments aus den Zeiten des Krieges gegen Napoleon nach, und auch der Neid auf die liberale Verfassung des Königreichs prägte das Verhältnis zu Polen. Nur im Rahmen slawophiler Stimmungen lässt sich ein Streben nach Vereinigung erkennen.

Wenn die Überschriften der einzelnen Kapitel wichtige Aspekte adressieren, lösen die Texte der sechs Autoren ihr Versprechen nur ansatzweise ein. Im Vordergrund steht eine detailreich erzählte Ereignisgeschichte, die weder fragengeleitet noch argumentierend dargestellt wird. Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand fehlt sowohl in der Einleitung als auch in den thematischen Abschnitten. Bedauerlich ist, dass die Autoren fast ausschließlich russisch- und polnischsprachige Forschungsliteratur zur Kenntnis nehmen. Zudem wäre insgesamt ein größerer Anmerkungsapparat angebracht gewesen, denn nicht nur erwartet der Leser bei der handbuchartigen Anlage des Buches weiterführende Literaturhinweise, sondern es werden auch viele Zitate nicht ausreichend belegt. Wie ein Relikt aus der sowjetischen Zeit mutet die Verwendung von Begriffen wieZarismus(z.B. S. 9, 519) oder inostranščina (S. 431, eine abwertende Bezeichnung für ausländische Einflüsse) an.

Den Autoren fehlt der Mut zur These. Als Ergebnis der Studie steht im Schlusswort der Herausgeberin, dass die Annäherung zwischen Polen und Russen in den Jahren 1815–1830 aufgrund der Unvereinbarkeit des autokratischen Herrschaftssystems mit dem konstitutionellen Prinzip gescheitert sei. Für ein über fünfhundert Seiten starkes Buch ist es enttäuschend wenig.

Daria Sambuk, Halle (Saale)

Zitierweise: Daria Sambuk, Halle (Saale) über: Pol’ša i Rossija v pervoj treti XIX veka. Iz istorii avtonomnogo Korolevstva Pol’skogo. 1815–1830. Otv. red. Svetlana M. Fal’kovič. Moskva: Indrik, 2010. 583 S., Tab. ISBN: 978-5-91674-087-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sambuk_Falkovic_Polsa_i_Rossija.html (Datum des Seitenbesuchs)

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