Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maike Sach

 

Studien zum Adel im mittelalterlichen Polen. Hrsg. von Eduard Mühle. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 596 S., 2 beigelegte Stammbäume. 1 Kte. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 25. ISBN: 978-3-447-06589-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1015973868/04

 

Der Adel ist wegen seiner vielfältigen Funktionen in der Ausübung von bzw. in seiner Beteiligung an Herrschaft ein traditioneller Forschungsgegenstand der vormodernen Geschichte europäischer Völker. Dies gilt selbstverständlich auch für Polen, wobei hier im Vergleich mit dem übrigen Europa einige Besonderheiten zu beobachten sind. Dies gilt u. a. für den verhältnismäßig großen Anteil des Adels an der Gesamtbevölkerung, seine politische Rolle und Bedeutung insbesondere in der frühen Neuzeit und die politisch-kulturelle Wirkungsmacht auch bis weit bis ins 20. Jahrhundert hinein. Der hier anzuzeigende Band ist der mittelalterlichen Geschichte des Adels in Polen gewidmet. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen und Abschnitten aus Monographien aus der Feder polnischer Fachleute, die ursprünglich im Zeitraum von 1992 bis 2010 publiziert, nun ins Deutsche übersetzt und dabei teilweise überarbeitet, aktualisiert und ggf. gekürzt worden sind. Mit dieser Auswahl möchte der Herausgeber, der einführend eine knappe historiographiegeschichtliche Skizze zur Erforschung des Adels in Polen liefert und Kritik an bisher gewählten Zugängen und in den zeitgenössischen Fachdebatten formulierten Desiderata zitiert, einem deutschsprachigen Publikum eine Zwischenbilanz, eine Momentaufnahme im Prozess einer langen und komplexen Forschungsdiskussion(S. 9–10) zugänglich machen. Die Beiträge sollen dabei vor allem die Entstehung des Adels, seine Entwicklung, Ausformung und seine politischen Rollen abbilden. Eine Sammlung von Beiträgen nach gleichem Muster, die adlige Memoria und geistliche Stiftungen von Angehörigen des Adels als weiteres wichtiges Wirkungsfeld behandeln, ist mittlerweile außerhalb der Reihen des DHI Warschau erschienen (Monarchische und adlige Sakralstiftungen im mittelalterlichen Polen. Hrsg. Eduard Mühle. Berlin 2013. = Stiftungsgeschichten 9).

Den Auftakt der Sammlung bildet ein umfangreicher, erstmals 2007 veröffentlichter Aufsatz von Tomasz Jurek, der nach einer einleitenden Erörterung von terminologischen Problemen und von Kriterien für die Zugehörigkeit zu adeligen Eliten vor allem einen Überblick über die Entstehung des polnischen Adels, seine unterschiedlichen Erscheinungsformen und sozialen Dynamiken vermittelt. Eine Herausforderung stelle dabei die nicht eben große Zahl aussagekräftiger Quellen dar. Jurek spannt einen weiten Bogen von den Kriegern der Gefolgschaft der frühen Piastenzeit, über Amtsträgereliten bis zum Abschluss des Adels als eigener Stand im Spätmittelalter. Es folgen zwei Beiträge über dasRitterrecht: Ambroży Bogucki diskutiert in seinem Artikel aus dem Jahr 2007 zunächst terminologische Aspekte, Etymologien und semantische Felder relevanter Begriffe, um dann nach einem Forschungsüberblick verschiedene Vorrechte und Freiheiten als Bestandteile des erst im 13. Jahrhundert in Quellen sicher belegten, aber wohl vor dem 11. Jahrhundert entstandenen Ritterrechts zu analysieren. Dessen Entwicklung spiegelt die Ausbildung des Adelsstandes auf juristischer und ökonomischer Ebene wider. Die Notwendigkeit, zwischen einzelnen Komponenten des Ritterrechts und ihren jeweiligen Auswirkungen auf Status, Pflichten und materielle Grundlagen adligen Lebens sauber zu unterscheiden, rückt Franciszek Dąbrowski in seinem 2008 erschienenen Aufsatz in den Fokus. Besondere Aufmerksamkeit schenkt der Autor dabei ökonomisch relevanten Bestimmungen und zeigt, dass das Ritterrecht kein statisches Konvolut an Privilegien und Immunitäten darstellte. Es wurden auch neue Vorbilder rezipiert und für die polnischen Verhältnisse adaptiert.

Wie in einer darauffolgenden Reihe von fünf Artikel vorgeführt wird, waren die politischen Rollen, die Angehörige des Adels einnehmen konnten, vielfältig: In seinem Beitrag, in den Texte der Jahre 2004 und 2007 sowie eine bislang unveröffentlichte Passage eingegangen sind, geht Janusz Bieniak dem Verhältnis zwischen dem Adel und dem polnischen Herrscher im 11. bis 12. Jahrhundert nach. Er arbeitet die positive Haltung des Adels zur Krönung von Fürsten aus der Dynastie der Piasten zu Königen heraus und zeigt, dass die territoriale Zersplitterung und die Schaffung von Teilfürstentümern angesichts der überregionalen Ausstattung mit Ämtern und Landbesitz insbesondere der großen alten Familien durchaus als negativ empfunden werden konnte. Die Schaffung neuer Fürstentümer führte allerdings auch zur Vermehrung von zu besetzenden Ämtern und zur Formierung eines jüngeren, eher regional gebundenen Adels, der jedoch in keinen nennenswerten Interessengegensatz zum alten Adel geriet: Ämter wurden abwechselnd mit Personen aus beiden Gruppen besetzt, die auch untereinander Heiratsverbindungen eingingen. Am längsten konnten sich diealten, noch aus der Zeit vor der Zersplitterung stammenden Eliten in Kleinpolen behaupten. Den Möglichkeiten des Adels, während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gestaltend auf die Politik in den Teilfürstentümern einzuwirken, widmet sich Agnieszka Teterycz-Puzio in ihrem aktualisierten Beitrag aus dem Jahre 2005. Sie vergleicht die beiden um 1200 durch Teilung entstandenen Fürstentümer Masowien und Kleinpolen, die unterschiedliche Spielräume für adlige Akteure eröffneten: Waren diese in Masowien relativ gering, so dass es dort zu einer Institutionalisierung eines fürstlichen Rates aus Angehörigen des Adels erst um die Mitte des 14. Jahrhunderts kam, gelang es dem Adel in Kleinpolen, maßgeblichen Einfluss auf die Geschicke des Landes zu gewinnen, wie die Analyse von Fürstentreffen, der jeweiligen Gefolgschaft und die Auseinandersetzungen um Krakau im zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts zeigt. Ebenfalls aus der Perspektive eines sich dynastisch weiter aufspaltenden Teilfürstentums, Schlesiens, untersucht Tomasz Jurek in seinem erstmals 1999 veröffentlichen Aufsatz die Instrumente, die den Fürsten zu Kreierung von Hofeliten zur Verfügung standen: Durch den Erweis oder den Entzug ihrer Gnade konnten sie zunächst den Aufstieg oder die Deklassierung betroffener Familien bewirken, die gezwungen wurden, sich an anderen Höfen um Ämter zu bemühen. Im 14. Jahrhundert verloren die schlesischen Piasten und ihre Höfe infolge zunehmender Zersplitterung allerdings zusehends an Autorität, so dass der Entzug fürstlicher Gnade für die jeweiligen Familien nicht mehr automatisch einen Abstieg einleitete und sich eine neue gesamtschlesische Elite bildete. Spielräume zur Behauptung der erreichten sozialen Position während der Wiedererrichtung des Königreichs Polen hat Janusz Kurtyka 1993 am Beispiel des Krakauer Kastellans Żegota und der mit ihm verwandten Familien untersucht. Mit dem Problem der Definition, der Zusammensetzung und der Wirkungsmöglichkeiten von Amtsträgern unter den Bedingungen der Herrschaft der Könige Władysław I. Ellenlang und Kasimir III. dem Großen (1305–1370) setzt sich Andrzej Marzec in seinem Artikel aus dem Jahre 2002 auseinander.

Es sind genealogische und prosopographische Gegenstände, die die Verfasser der daran anschließenden vier Beiträge aus unterschiedlichen Winkeln kritisch beleuchten bzw. zu denen sie an konkreten Beispielen Erkenntnismöglichkeiten veranschaulichen: In einem Aufsatz aus dem Jahre 2003 beschäftigt sich Janusz Bieniak mit dem mittelalterlichen Verwandtschaftsgefühl und seiner Widerspiegelung in Terminologie und Quellen. Er skizziert die Geschichte der Genealogie des polnischen Adels und ihrer Methoden und unterzieht verschiedene Ansätze in neueren Arbeiten einer kritischen Revision. Die Ergebnisse der genealogischen und prosopographischen Erforschung des Adels in Kleinpolen hat Jerzy Sperka in einem 2010 erstveröffentlichten Forschungsüberblick zusammengetragen. Angesichts der spärlichen Überlieferung von Schriftquellen wertet Teresa Kiersnowska in ihrem ursprünglich 1992 erschienenen Beitrag auch archäologisches Material aus, um die fremde Herkunft der Geschlechter der Awdaniec und Łabędź aus rusisch-warägischen Gefolgschaften nachzuzeichnen. Wie Jurek und Bieniak ist auch Janusz Kurtyka mit einem weiteren Text im vorliegenden Sammelband vertreten, einem Auszug aus einer 1997 publizierten Monographie zur Geschichte des mächtigen Geschlechts der Topór. Ausgewählt wurde eine Passage, in der es ebenfalls um die Rekonstruktion der Ursprünge des Geschlechts, seiner Verbreitung und damit auch um die Lokalisierung seiner frühesten Besitzungen geht. Anders als bei den Awdaniec und Łabędź kann bei den Topórs, als deren frühester bekannter Angehöriger der Wojewode Sieciech angesehen wird, eine Herkunft aus alten landeseigenen Eliten wahrscheinlich gemacht werden. Auch zeigt Kurtyka am Beispiel der Topórs, wie der Begriff desAdelsnestesals Herkunftsort einer Zahl von Familien mit gleichem Wappen bzw. gleicher Wappengemeinschaft als wissenschaftliches Konzept genutzt werden kann. Abschließend untersucht Jan Wroniszewski in einem 2001 erstveröffentlichten Beitrag die Eigentumsverhältnisse, deren Dynamik, die Zusammensetzung jeweiliger Vermögen an beweglichen und unbeweglichen Gütern inklusive verschiedener Privilegierungen in einer territorial definierten Gruppe, nämlich der Adligen aus Sandomir im Zeitraum vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Dabei bezieht er das wirtschaftliche Verhalten und dessen Konsequenzen für die soziale Positionierung der Mitglieder des Sandomirer Adels in die Analyse mit ein. Mit diesem Ansatz erweitert Wroniszewski die systematische Erforschung eines miteinander verwandten Personenkreises um eine sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Dimension.

Erschlossen sind die Texte durch ein gemeinsames Register der erwähnten polnischen Adelsgeschlechter und der Wappengemeinschaften sowie durch Indizes von Personen- und Ortsnamen. Neben direkt in die Texte oder in das Vorsatzblatt integrierten Karten verfügt der Band über zwei separate Stammtafeln.

Des Polnischen unkundige Leser werden die Beiträge des Sammelbandes, der vom Konzept her an die Darmstädter ReiheWege der Forschungbzw.Neue Wege der Forschungerinnert, zweifellos mit Gewinn zur Kenntnis nehmen. Die Aufsätze waren ursprünglich für andere Kontexte geschrieben worden, es erstaunt infolgedessen nicht, dass es bei einigen Texten inhaltliche Doppelungen gibt, die man auf den ganzen Band gerechnet als Redundanzen wahrnehmen könnte. Dies wäre nur zu vermeiden gewesen, wenn der Band im Kontext einer entsprechenden Tagung bzw. eines eigens konzipierten Buchprojektes entstanden wäre. Ein solches hätte vielleicht auch dem Polnisch lesenden Publikum mehr Neues geboten, als es mit der Übersetzung wichtiger Beiträge der Fall ist. Dem Zweck der Förderung des wissenschaftlichen Diskurses zwischen deutschen und polnischen Fachvertretern der Mediävistik, dem der Herausgeber mit der Veröffentlichung des Bandes schließlich auch dienen möchte (S. 10), hätte dies kaum entgegengestanden.

Maike Sach, Kiel/Mainz

Zitierweise: Maike Sach über: Studien zum Adel im mittelalterlichen Polen. Hrsg. von Eduard Mühle. Wiesbaden: Harrassowitz, 2012. 596 S., 2 beigelegte Stammbäume. 1 Kte. = Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 25. ISBN: 978-3-447-06589-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sach_Muehle_Studien_zum_Adel_im_mittelalterlichen_Polen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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