Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maike Sach

 

Karol Modzelewski: Das barbarische Europa. Zur sozialen Ordnung von Germanen und Slawen im frühen Mittelalter. Osnabrück: fibre, 2011. 483 S. = Klio in Polen, 13. ISBN: 978-3-938400-66-1.

Die 2011 publizierte deutsche Übersetzung der 2004 unter dem TitelBarbarzyńska Europaerschienenen Monographie des Mediävisten Karol Modzelewski ist bereits die fünfte Übertragung diesesund dies sei schon an dieser Stelle vorweggenommenanregenden Werkes aus dem Polnischen. Diese zahlreichen Übersetzungen belegen neben (auch kontroversen) Besprechungen des Werks in Fachzeitschriften das anhaltende Interesse an den Thesen des renommierten Autors.

Einleitend diskutiert Modzelewski summarisch verschiedene Begriffe und Denkfiguren, die mit dem TerminusEuropain Zusammenhang gebracht werden. Dabei stellt er fest, dass bereits das christlich-antike Erbe, auf welches bei der Suche nach den Ursprüngen Europas gemeinhin verwiesen werde, kein kulturell homogenes, sondern ein heterogenes sei. Doch damit allein sei die Genese der bis in die Gegenwart zu beobachtenden charakteristischen Heterogenität Europas nicht hinreichend zu erklären: Vielmehr sei, so der Verfasser, in der Wissenschaft bislang der Beitrag der traditionellen Gesellschaften und Völker außerhalb des mediterranen Raumes, die von den antiken Völkern vor der Folie ihrer eigenen Zivilisation alsBarbarenbezeichnet und wahrgenommen wurden, zur Heraus- und Umbildung von gesellschaftlich-sozialen Ordnungen, der europäischen Kultur und ihrer bis auf den heutigen Tag zu beobachtenden Vielfalt zu wenig gewürdigt worden. Dieses nicht-christliche, weder römische noch hellenistische Erbe herauszuarbeiten und seine Bedeutung innerhalb der langdauernden, komplexen Ausformung Europas und seiner kulturellen Eigenheiten von der Antike bis ins frühe Mittelalter zu bemessen, stellt das Ziel Modzelewskis dar.

Sein besonderes Interesse gilt dabei der Rekonstruktion sozialer Ordnungen traditioneller Stammesgesellschaften des barbaricums, hier insbesondere verschiedener germanischer und (west)slawischer Völkerschaften Mitteleuropas, die unter sehr unterschiedlichen historischen Vorzeichen in Kontakt mit der antiken Welt traten und dabei auf verschiedene Weise klassische Kulturmuster rezipierten. Am Beispiel der Wandlungen der sozialen Ordnungen und Strukturen in den für die Untersuchung ausgewählten Gesellschaften möchte der Verfasser diese komplexen Prozesse im Rahmen der Formierung Europas erhellen und dabei auch wirkmächtigen gesellschaftlichen Normen, die in diesem Kontext als Erbe des barbaricums angesprochen werden könnten, auf die Spur kommen.

Der Untersuchungszeitraum ist durch die epochalen Eckpunkte Antike und frühes Mittelalter als grundlegende Phase der Entstehung neuer Reiche in Mitteleuropa definiert und damit ebenso so weit gespannt wie der geographische Raum, dessen Bevölkerung und deren Geschichte auf diese Weise in den Blick gerät. Durch wiederholt angestellte Vergleiche mit den zeitgenössischen Verhältnissen in Skandinavien und der ostslawischen Kiewer Rus’ wird dieser Raum noch zusätzlich erweitert.

Dieser große Zuschnitt spiegelt sich auch im Katalog von Schriftquellen verschiedener Entstehungszeiten und heterogener Entstehungskontexte wider, in denen Modzelewski nach Spuren von sozialen Ordnungen und Strukturen bei Slawen und Germanen fahndet: Sie reichen von Texten klassischer römischer Autoren wie Cäsar und Tacitus, über byzantinische und lateinische mittelalterliche Chroniken, über Reiseberichte bis zu verschiedenen Rechtsüberlieferungen der im Fokus stehenden slawischen und germanischen Gesellschaften.

Trotz dieser Reichhaltigkeit bleibt die relative Quellenarmut ein Grundproblem, welches es gerade für die Geschichte der frühmittelalterlichen slawischen Herrschaften zu konstatieren gilt. In diesem Kontext haben archäologische Funde für die Erforschung von an Schriftquellen armen Perioden besondere Bedeutung erlangt. Quellen dieses Typs hat Modzelewski allerdings nicht weiter für seine Studie herangezogen, da er Informationen archäologischen Ursprungs allenfalls der Literatur für einige ausgewählte Argumentationen hätte entnehmen und nicht systematisch aufgrund eigener Forschungen hätte einarbeiten können. Stattdessen versucht er, durch die systematische Verwendung von Methoden und Ansätzen aus der historischen Anthropologie und der Ethnologie aus den schon lange bekannten Quellen die gesuchten Informationen herauszupräparieren.

Das Augenmerk des Verfassers gilt im ersten großen Kapitel seiner Arbeit quellenkundlichen und quellenkritischen Problemen, die sich in besonderem Maße stellen, wenn Berichte über Völker und Gesellschaften ohne eigene Schriftsprache einen großen Teil des zur Verfügung stehenden Materials ausmachen und wenn einzelne Informationen auch vor dem Hintergrund der Probleme zu bewerten sind, die sich aus konkreter Textgenese, intertextueller Abhängigkeiten sowie spezifischen Gattungs- und Darstellungskonventionen ergeben.

Im zweiten Kapitel analysiert Modzelewski die überlieferten leges barbarorum, um spezifische Rechtsprinzipien wie beispielsweise das Prinzip der Rechtsverschiedenheit infolge unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit, besondere Rechtstraditionen sowie die Ergebnisse von Adaptions- und Anpassungsprozessen herauszuarbeiten. Dieser Abschnitt bildet eine Art Folie, vor der in weiteren Kapiteln die Verhältnisse von Menschen in unterschiedlich definierten Gruppen aus variierenden Perspektiven eingehender untersucht werden: So beleuchtet Modzelewski zunächst das Verhältnis von Individuen zu ihren jeweiligen Verwandten unterschiedlichen Grades und die Bedeutung dieser Bindungen, die in unterschiedlichen Praktiken in der Austragung oder in der Beilegung von Konflikten mit Dritten relevant waren. Dabei arbeitet er auch die Unterschiede heraus, die das jeweilige Geschlecht für die Handlungsspielräume der betroffenen Personen bedeutete, und welche Rolle ihnen jeweils gemäß der Rechtstradition eingeräumt wurde. Ferner interessieren ihn die Erscheinungsformen sozialer Differenz innerhalb der Ordnung eines gentilen Verbandes.

Eine weitere gesellschaftliche Gruppe, die Modzelewski untersucht, definiert sich durch die gemeinsame Nutzung des unmittelbaren Lebensraums. Diese als nachbarschaftliche Nutzungsgemeinschaft bezeichnete Gruppe wird einerseits hinsichtlich ihrer Praktiken, der lebensweltlichen und dabei insbesondere der (land)wirtschaftlichen Aspekte ihres Lebensvollzugs untersucht. Als grundlegende politische Größe wird sie im folgenden sechsten Kapitel verstanden und analysiert, während im letzten Abschnitt die Institutionen einer gentilen Gemeinschaft eingehender behandelt werden.

Kennzeichnend für das Vorgehen des Verfassers ist die akribische, in ihren einzelnen Schritten gleichwohl auch für Nichtfachleute sehr gut nachvollziehbare Arbeit an und mit den einzelnen Quellen sowie ihre vergleichende Interpretation. Sie fließt in stringent formulierte Argumentationen und synthetische Abschnitte sowie eine anregende Modellbildung ein: So behandelt Modzelewski Slawen und Germanen nicht als kulturell unterschiedliche gentile Gesellschaften, sondern verweist an vielen Stellen auf typologische Gemeinsamkeiten im Bereich der sozialen Strukturen und Ordnungen, die er auf gemeinsame basale archaische Ordnungsmuster zurückführt und schließlich zu einem Modell der traditionellen Gesellschaften des barbaricums abstrahiert.

Dieses Modell mag vielleicht angesichts des langen Untersuchungszeitraums etwas statisch ausfallen und auch bezüglich der ihm zugrunde liegenden Materialbasis Anlass für Kritik im Detail bieten. Dennoch ist es erhellend und erfüllt damit seine Funktion, lassen sich doch Prozesse derauch wechselseitigenBeeinflussung im Bereich der sozialen und gesellschaftlichen Ordnungen zwischen antik-christlicher Zivilisation und den Völkern und gentilen Gemeinschaften des barbaricums plastischer herausarbeiten und damit die eingangs diagnostizierte kulturelle Heterogenität in Europa sowie ihre Ursprünge genauer erklären.

Maike Sach, Kiel

Zitierweise: Maike Sach über: Karol Modzelewski: Das barbarische Europa. Zur sozialen Ordnung von Germanen und Slawen im frühen Mittelalter. Osnabrück: fibre, 2011. 483 S. = Klio in Polen, 13. ISBN: 978-3-938400-66-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Sach_Modzelewski_Das_barbarische_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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