Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-review 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Jan Rydel

 

Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Srefan Troebst. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2009. VII, 285 S., Abb. = Visuelle Geschichtskultur, 3. ISBN: 978-3-412-20292-7.

Der zu besprechende Band ist zum größten Teil Resultat einer Konferenz des Leipziger GWZO und des Breslauer WBZ, die im Jahre 2006 in Breslau im Rahmen des DFG-Projektes „Visuelle und historische Kulturen Ostmitteleuropas im Prozess staatlicher und gesellschaftlicher Modernisierung seit 1918“ stattgefundenen hat.

Das Buch eröffnen die Einleitung von Martin Aust, die den Stand der Forschung zur Geschichtskultur in den Ländern Ostmitteleuropas und die Struktur des Bandes schildert, sowie der Beitrag von Rudolf Jaworski „Die historische Gedächtnis- und Erinnerungsforschung als Aufgabe und Herausforderung der Geschichtswissen­schaften“. Jaworski erwähnt die methodologischen Grundlagen dieser neuen Forschungsrichtung, erklärt die überdurchschnittliche Bedeutung und Besonderheit der Erinnerungskulturen in diesem Teil unseres Kontinents, verortet die zur Zeit sich einer so großen Beliebtheit erfreuenden Forschungen zur „zweiten Geschichte“ auf eine sehr überzeugende Art und Weise in der langen Reihe der Teildisziplinen der Geschichtsforschung und stellt sie als sehr ertragreiche und inspirierende Ergänzung anderer Forschungsfelder vor. Dabei betont er jedoch, dass ihre Behandlung als „einzig wahre Forschungsrichtung“ äußerst fragwürdig ist, weshalb er die Rede vom Paradigmenwechsel in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung für ziemlich vermessen hält.

Die Autoren der zwölf Aufsätze, die einzelnen Episoden der ostmitteleuropäischen „zweiten Geschichte“ gewidmet sind, benutzen verschiedene Herangehensweisen an ihre Themen. So finden wir im Band neben der lieux de mémoire-Analyse eher positivistische Betrachtungen zur Geschichte der Rezeption einzelner historischer Gestalten und zur Entwicklung des Forschungsstandes zu gewissen Kernproblemen der Geschichte Ostmitteleuropas sowie psychohistorische, geschichtspolitische, literatur- und filmwissenschaftliche Ansätze. Was die Thematik der Aufsätze betrifft, so kann man einige Themengruppen aufzeigen.

Eine von ihnen gilt der „zweiten Geschichte“ der Schlacht bei Tannenberg 1410, der zwei Artikel gewidmet sind. Rimvydas Petrauskas / Darius Staliunas schreiben zum Thema „Die drei Namen der Schlacht: Erinnerungsketten um Tannenberg / Grunwald / Żalgiris“, Lars Jockheck / Frithjof Benjamin Schenk behandeln „den polnischen und den sowjetischen Blick auf den Deutschen Orden im Historienfilm: Gab es eine Rezeption von Sergei Eisensteins ‚Aleksandr Nevskij‘ in Alek­san­der Fords ‚Krzyżacy‘“? Im letzteren Beitrag finden wir eine brillante vergleichende Untersuchung zweier bedeutenden Filmwerke und nicht nur die Antwort auf die eher bescheidene Titelfrage.

Die andere Themengruppe bilden Aufsätze von Marek Zybura („Das Breslauer Racławice-Panorama. Ein Beitrag zur transnationalen Verflechtung der Geschichtskultur Polens“) und Halina Florkowska-Frančić („Das Gedenken an Tadeusz Kościuszko in Polen und im Ausland. 1817–1917“), die die historische Rezeption der Person des Anführers des ersten polnischen Aufstandes thematisieren. Marek Zybura beschreibt nicht nur die Entstehungsgeschichte des überdimensionalen Schlachtenbildes und seine Wirkung zuerst in Lemberg und nach der ‚Westverschiebung‘ Polens in Breslau, sondern stellt auch überraschend unter Beweis, dass das Panorama eigentlich kein Fremdkörper in der traditionellen Erinnerungskultur Breslaus ist, weil die Stadt in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts eine Art deutsches Zentrum des Kościuszko-Kultes in Deutschland war und der Breslauer Karl von Holtei auf der Welle der Polenbegeisterung einen damals recht populären Einakter über Kościuszko unter dem Titel „Der alte Feldherr“ verfasst hat. Halina Florkowska-Frančić analysiert die Funktionen, welche das Gedenken an Kościuszkos während der ersten hundert Jahre nach dem Tod des wohl populärsten polnischen ‚Nationalhelden‘ erfüllte. Seine identitätsstiftende Wirkung beruhte auf dem Kościuszko-Mythos, der sowohl den Unabhängigkeitsdrang der Polen als auch das Streben der polnischen Bauern nach Emanzipation und nach Teilhabe an der polnischen Politik verkörperte. Zu dieser Themengruppe kann man ebenfalls den literaturhistorischen Beitrag von Kata­rz­yna Różańska „Napoleon im Biedermeier: drei Kulturen – ein Paradigma“ zählen.

Dem breiten Themenkomplex des Zweiten Weltkrieges und der direkten Kriegsfolgen, der bekanntermaßen immer noch eine enorme Rolle in der Erinnerungskultur und der Geschichtspolitik in unserem Teil Europas spielt, sind die Beiträge von Krzy­sz­tof Ruchniewicz („Die Jedwabne-Debatte in Polen. Das schwierigste und schmerzlichste Kapitel der polnisch-jüdischen Beziehungen“), Edmund Dmitrów („Erinnerung und Verschweigen des Warschauer Aufstandes in Deutschland, Polen und der Sowjetunion/Rußländischen Föderation“), Peter Oliver Loew („Vertriebene aus Danzig, Vertriebene in Danzig seit 1939/1945. Trauma, Einkapselung und langsame Entdeckung des anderen“) und Stefan Troebst („Europäisierung der Vertreibungserinnerung? Eine deutsch-polnische Chronique scandaleuse 2002–2008“) gewidmet. Krzysz­tof Ruchniewicz berichtet auf wenigen Seiten, aber ganz zutreffend und ausgewogen über den Verlauf der fundamentalen polnischen Debatte, die das Buch „Nachbarn. Geschichte der Vernichtung eines jüdischen Städtchens“ von Jan Tomasz Gross hervorgerufen hat. Diese sehr emotionale, aber auch anspruchsvolle, landesweite Diskussion eröffnete den Polen eine neue Blickrichtung auf die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges. Edmund Dmitrów beschreibt mit der für ihn charakteristischen Präzision und Zurückhaltung den ganz unterschiedlichen Stellenwert, den der Warschauer Aufstand in Polen, in Deutschland und in Russland besitzt. Für die Polen gehört der Aufstand zu den Ereignissen, die ihre Identität entscheidend geprägt haben, was in der deutschen öffentlichen Erinnerung recht spät, hauptsächlich dank dem politischen Einsatz von Roman Herzog (1994) und Gerhard Schröder (2004), wahrgenommen wurde. Die Russen dagegen scheinen die Rolle des Aufstandes noch zu übersehen. Peter Oliver Loew stellt die Erinnerungskultur der ausgesiedelten Deutschen aus Danzig und der polnischen Aussiedler in Danzig vor. Er benutzt die Methoden der Psychohistorie, was sehr inspirierend ist. Loew ist dabei überzeugt, dass infolge der Transformation nach 1989 und der Wende in den deutsch-polnischen Beziehungen die Erinnerungskulturen beider Gruppen von Danzigern miteinander verflochten worden sind und dass es nun die Chance gibt, ein gemeinsames Bild der Stadtgeschichte zu schaffen. Stefan Troebst widmete seinen Beitrag einem wichtigen Objekt der deutsch-polnischen, mittel- und allgemeineuropäischen Geschichtspolitik, dem „Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität“, dessen Entstehung durch viele antagonistische Faktoren in Polen, Deutschland und in den anderen Ländern der Višehrad-Gruppe geprägt wurde. Vieles deutet darauf hin, dass das Netzwerk nach mehrjähriger Verzögerung im Laufe der nächsten Zeit seine Tätigkeit im geplanten Umfang aufnimmt.

Die Beiträge von Anna Veronika Wendland („Stadtgeschichtskulturen: Lemberg und Wilna als multiple Erinnerungsorte“), Martin Aust („300 Jahre Perejaslav 1954. Im­periale Geschichtspolitik der Sowjetunion im Warschauer Pakt“) und Thomas Serrier („Zwischen Inklusion und Exklusion: Jüdische Erinnerungen im Spannungsfeld der deutschen und polnischen Nationsbildungen in der Provinz Posen des Kaiserreichs“) gehören zu keiner Themengruppe. Anne Veronika Wendland schildert den besonderen Platz zweier Städte, Lemberg und Wilna, in der Erinnerungskultur der Polen und – wenn auch mit ganz anderen Vorzeichen – der Ukrainer und Litauer. Martin Austs interessanter Aufsatz ist der „zweiten Geschichte“ eines Ereignisses gewidmet, das im modernen Polen kein Bestandteil der allgemeinen Erinnerungskultur mehr ist und höchstens dann erwähnt wird, wenn die Polen über ihre Fehler und Unterlassungen gegenüber den Ukrainern sinnieren. Es geht um das Abkommen von Perejaslav von 1654, das Russland den Weg zur Expansion in der Ukraine eröffnete. Anders als in Polen besaß das Abkommen sowohl in Russland als auch in der Ukraine einen hohen Stellenwert als Eckstein der gegenseitigen Zusammenarbeit und hatte einen entsprechend hohen Rang in der Geschichtspolitik der Sowjetunion. Thomas Serrier beschäftigt sich in seinem Beitrag mit der Position der Juden in der Provinz Posen, wo sie zwischen zwei zunehmend verfeindeten Volksgruppen leben und agieren mussten. Er interessiert sich vor allem für die Darstellung der Regionalgeschichte durch die jüdischen Posener Historiker des 19. Jahrhunderts und unterstreicht, dass ihre Werke vor dem Hintergrund der national gefärbten deutschen und polnischen Geschichtsschreibung und Publizistik von bleibendem Wert sind.

Neben der hohen Qualität jedes einzelnen Aufsatzes in dem Sammelband fällt dem Leser die Zusammensetzung des Bandes positiv auf. Das Bemerkenswerte ist, dass es den Herausgebern gelang, mit Hilfe von lediglich zwölf Beiträgen ein ziemlich vollständiges Bild der verflochtenen Erinnerungen in unserem Teil Europas zu schaffen. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass im Band keine überraschenden Lücken zu finden wären. Zu diesen gehört sicherlich das Problem der Erinnerung an den Massenmord von Katyń in Polen und in der Sowjetunion bzw. in der Russländischen Föderation, deren Einfluss auf die polnisch-sowjetischen bzw. polnisch-russischen Beziehungen nicht zu überschätzen ist. Sicherlich sehr interessant und vielsagend wäre auch eine Analyse der Formen und Inhalte des Gedenkens an den Holocaust in den polnischen KZ-Gedenkstätten. Trotz dieser und anderer Lücken ist das Buch „Verflochtene Erinnerungen“ sehr empfehlenswert. Ein Leser, der noch am Anfang seiner intellektuellen Begegnung mit Polen und seinen Nachbarn steht, wird durch die Lektüre des Buches einen riesengroßen Schritt in Richtung Verständnis für die Erinnerungskultur dieser Völker machen. Auch die Kenner dieser Problematik werden in jedem Beitrag des Bandes viele neue, bedeutende Aspekte und Details finden.

Jan Rydel, Kraków

Zitierweise: Jan Rydel über: Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Srefan Troebst. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2009. VII. = Visuelle Geschichtskultur, 3. ISBN: 978-3-412-20292-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rydel_Verflochtene_Erinnerungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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Zitierweise: Jan Rydel über: Verflochtene Erinnerungen. Polen und seine Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Martin Aust, Krzysztof Ruchniewicz und Srefan Troebst. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien 2009. VII. = Visuelle Geschichtskultur, 3. ISBN: 978-3-412-20292-7, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, jgo.e-review 1 (2011), 2, S. : http://www.oei-dokumente/JGO/Rez/Rydel_Verflochtene_Erinnerungen.html (Datum des Seitenbesuchs)