Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Sabine Rutar

 

Dagmara Jajeśniak-Quast: Stahlgiganten in der sozialistischen Transformation. Nowa Huta in Krakau, EKO in Eisenhüttenstadt und Kunčice in Ostrava. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 349 S., 53 Abb., 49 Tab. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 20. ISBN: 978-3-447-06384-5.

Der Titel des hier zu besprechenden Bandes scheint, zumindest für jemanden, die sich in den letzten Jahren überwiegend mit den post-sozialistischen Gesellschaften des östlichen Europas beschäftigt hat, eine Denkfigur herauszufordern: Mit dem Wort „Transformation“ assoziiert man quasi automatisch die jüngste Vergangenheit, man vermisst somit fast das „post-“ vor dem Adjektiv „sozialistisch“. Dagmara Jajeśniak-Quast erklärt, es gehe ihr in der Tat auch darum, die disziplinär installierte unbedingte Verknüpftheit des Begriffs mit der jüngsten, marktwirtschaftlichen Variante und insbesondere die damit fast immer einhergehende Gleichsetzung von Transformation und Demokratisierung aufzulösen – schließlich habe es der soziökonomischen Transformationen in der Geschichte viele gegeben (S. 17–18, 26–27).

So fraglich einerseits der Mehrwert dieses wissenschaftsimmanenten, interdisziplinären Eingangsdialogs ist, den die Autorin nicht zuletzt als Repräsentantin ihrer wissenschaftlichen Heimat, der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, führt, so willkommen historisch normal erscheint hierdurch das sozialistische Wirtschaftsmodell. Jajeśniak-Quast misst der sozialistischen Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg – diese steht im Mittelpunkt ihrer Untersuchung – eine objektive Gleichwertigkeit mit anderen historischen Transformationen zu und vermeidet hierdurch den häufig unreflektierten, (moralisch-)wertenden Ansatz, der vielen Studien zum Staatssozialismus bzw. zu seiner Ad-Acta-Legung durch den ihm folgenden Systemwechsel inneliegt.

Mehr noch, Jajeśniak-Quast verknüpft die sozioökonomische Entwicklung der sowjetisch inspirierten Planwirtschaft gelungen mit weiter zurückliegenden Zeiten und vermag so zu zeigen, dass die „sozialistische Revolution“ keineswegs den kompletten Bruch bedeutete, den die Ideologie der Erschaffung eines „neuen Menschen“ suggerierte. Nicht zuletzt machte es die Erfahrung des Krieges den neuen Machthabern vergleichsweise leicht: „Rückblickend betrachtet, begünstigten die Kriegserfahrungen, dass die Menschen bereit waren, solche [schlechten] Bedingungen zu ertragen. Darüber hinaus begünstigte die Aufbruch- und Aufbaustimmung die Transformation. Jede Euphorie hat allerdings auch ihre Grenzen.“ (S. 180)

Anhand dreier nach dem Zweiten Weltkrieg etablierter Stahlwerke, von Nowa Huta in Polen, deas Eisenhüttenkombinats Ost in der DDR und – als nicht ganz so ausführlich untersuchtes tertium comparationisder Neuen Klement-Gottwald-Hütte in der Tschechoslowakei, legt Jajeśniak-Quast, trotz des Fokus auf die ersten anderthalb Nachkriegsjahrzehnte, eine gelungene unternehmensgeschichtliche Studie zu einem Zeitraum „längerer Dauer“ vor, indem sie die Pfadabhängigkeiten des sozialistischen Plans ebenso aufzeigt wie jene des Postsozialismus. Alle drei Werke – die heute unter dem Dach des weltgrößten Stahlkonzerns ArcelorMittal weiter bestehen – erwiesen sich in der jüngsten Transformation immerhin als durchaus wettbewerbsfähig, auch wenn die Gründe ihres Erhalts nach 1989/90 zuvörderst politische gewesen waren.

Umso interessanter ist es, Entstehung und Entwicklung der Werke in vergleichender Perspektive zu untersuchen: die Prozesse der Standortentscheidungen, des Aufbaus der Werke und der ihnen zugeordneten Städte, die weitere unternehmerische Entwicklung im Zeichen des Plans, die Zusammensetzung der Belegschaften, Arbeitsbedingungen, -praxis und -konflikte sowie der weitere Kontext staatssozialistischer und gesamteuropäischer Stahl- und Montanwirtschaft. Ein wichtiger Fokus der Arbeit liegt auf den Arbeitern selbst: „[…] die Unternehmensgeschichte [wurde] als Arbeitergeschichte verstanden, im Unterschied zum traditionellen Ansatz. […] Die Arbeitergeschichte vernachlässigt den unternehmensgeschichtlichen Aspekt keineswegs, wie es umgekehrt die Unternehmensgeschichte tut“ (S. 313).

Deutlich wird beispielsweise das sehr hohe Maß, in dem die Gewerkschaften zum verlängerten Arm der Partei wurden. Während in allen drei Werken kaum 20 Prozent der Belegschaft Parteimitglieder waren, trat die große Mehrheit der Arbeiter der Gewerkschaft bei, aus pragmatischen Motiven, angelockt durch materielle Anreize: Lohnkonflikte, Unmut über die Erhöhung der Arbeitsnormen, allgemein gesprochen also Unzufriedenheit bezüglich der „gerechten Verteilung“ (S. 183), der groben Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens (S. 209), begegneten die Gewerkschaft mit der „Verteilung der Ferienreisen, Wohnungen und Krippenplätze sowie […] [der] Betreuung der Kranken und Veteranen. Die Erhöhung der Löhne und Gehälter sowie die Verringerung der Arbeitszeit waren nachrangige Ziele“ (S. 191). Gewerkschaftliche Arbeit zielte – in starkem Bruch mit früheren Traditionen – fast vollständig auf die Förderung sozialer und kultureller Integration und damit auf die Befriedung der Arbeiterinnen und Arbeiter. „Die offenen Kämpfe der Arbeiter fanden in allen drei Ländern […] ohne Mitwirkung der offiziellen Gewerkschaften statt“ (S. 193).

Ein transnationaler Vergleich bedarf immer erheblicher, nicht nur im geographischen Sinne ausgedehnter Quellenhebungen. Jajeśniak-Quast hat die Herausforderung umfassend bewältigt, zahlreiche bislang kaum ausgewertete Materialien in Archiven in Warschau, Krakau, Ostrava, Prag und Eisenhüttenstadt gesammelt. Im Zentrum stehen die Unternehmensarchive, deren Zugänglichkeit angesichts noch bestehender Werke nicht selbstverständlich ist. Hinzu kommt die Analyse von Dokumenten aus staatlichen, regionalen und lokalen Archiven sowie von Zeitungen, „grauer“ Literatur, Sekundärliteratur und auch Filmen.

Jajeśniak-Quast gelingt es eindrücklich, die Diskrepanzen zwischen Anspruch und Realität aufzuzeigen. Dies gelingt ihr nicht zuletzt aufgrund ihrer analytisch unvoreingenommenen Herangehensweise, die sie zu einer nüchternen, detailgenauen Chronistin der Ambivalenzen der Moderne werden lässt. So findet man einerseits Aussagen wie „Die Planwirtschaft und deren Lenkung der Beschäftigungspolitik sind eher mit den rigiden Methoden der Kriegswirtschaft zu vergleichen“ (S. 102), andererseits aber auch solche: „Für diese [analphabetische] Bevölkerung [im Kreis Krakau] bedeutete die sozialistische Industrialisierung nicht nur den Bau der neuen Hütte im Vorgarten ihrer Häuser, sondern vor allem das Lernen des ABC“ (S. 119). Mehrfach verweist sie auf Zeitdokumente, die Analogien in Sprachgebrauch und Lenkungspraxis zwischen dem NS-Staat und der DDR aufzeigen (S. 127, S. 157 u. a. m.).

Es wäre sehr zu begrüßen, wenn Jajeśniak-Quasts Herangehensweise, die Belegschaften als einen signifikanten Teil von Unternehmensgeschichte anzusehen, Schule machen würde – die Geschichte der Arbeiter wie auch der Unternehmen im Staatssozialismus (und darüber hinaus) ist weitgehend ungeschrieben, trotz oder gerade wegen ihrer ideologischen Überfrachtung. Ihrem Buch, der bearbeiteten Version ihrer im Jahr 2005 an der Universität Viadrina verteidigten Dissertation, sind nicht nur viele Leserinnen und Leser zu wünschen, sondern vor allem auch solche, die sich durch die Lektüre inspiriert fühlen, entlang ihrem Ansatz das Forschungsfeld zu erweitern und zu vertiefen.

Sabine Rutar, Regensburg/Potsdam

Zitierweise: Sabine Rutar über: Dagmara Jajeśniak-Quast: Stahlgiganten in der sozialistischen Transformation. Nowa Huta in Krakau, EKO in Eisenhüttenstadt und Kunčice in Ostrava. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. 349 S., 53 Abb., 49 Tab. = Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas, 20. ISBN: 978-3-447-06384-5, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Rutar_Jajesniak-Quast_Stahlgiganten.html (Datum des Seitenbesuchs)

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