Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Ruggenthaler

 

Gerhard Wettig (Hrsg.): Der Tjulpanov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen: V&R unipress, 2012. 424 S., Tab. = Berichte und Studien, 63. ISBN: 978-3-8471-0002-7.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten der partiellen Öffnung sowjetischer Archive herrscht zu einer der wichtigsten Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte in der Historiographie nach wie vor Dissens. War die Sowjetisierung der sowjetischen Besatzungszone von Stalin ursprünglich gar nicht ins Auge gefasst und ‚nur‘ eine Reaktion auf eine vermeintlich aggressive Politik der Westmächte? Nach wie vor wird diese These von einigen Historikern, vor allem in Deutschland, vehement vertreten (S. 13 ff.), wie der Sowjetunion-Experte Gerhard Wettig eingangs zusammenfassend darstellt.

Wettig ediert in dem vorliegenden Buch einen über 260 Seiten langen Rechenschaftsbericht von Oberst Sergej I. Tjulpanov für den Zeitraum 1945–1948 und leitet diesen mit einer 130 Seiten langen Analyse ein. Als Leiter der Propaganda- und Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) war  Tjulpanov gegenüber dem ZK-Apparat in Moskau verantwortlich für zentrale Bereiche der Umgestaltung der SBZ im Sinne der UdSSR: Parteien, gesellschaftliche Organisationen, Presse, Rundfunk, Film- und Kulturarbeit, Schulungseinrichtungen. In seinem Tätigkeitsbericht, der auf zahlreichen vorausgegangenen Einzelberichten beruht, legt er Rechenschaft über die von ihm geleistete Arbeit ab (die im Übrigen, nachdem er früher mehrfach wegen zu geringer Erfolge angefeindet worden war, mit der Beförderung vom Oberst zum Generalmajor belohnt wurde).

Zunächst einmal zeigt der Bericht eindeutig, dass die sowjetische Besatzungsmacht die Entscheidungen in der deutschen SBZ durchgängig bestimmt hat und die geschaffenen politischen Verhältnisse nicht Ergebnis selbständiger KPD/SED-Politik waren. Fast alle Zuständigkeitsbereiche Tjulpanovs leisteten einen unmittelbaren bedeutsamen Beitrag zum Transformationsprozess in der SBZ. Kennzeichnend ist zum einen, wie die Vereinigung der „beiden Arbeiterparteien“, die zunächst erst für ein späteres Stadium (wenn nämlich die Kommunisten zur problemlosen Assimilation der sozialdemokratischen Elemente fähig sein würden) vorgesehen war, dann auf Antrag Tjul’panovs in Moskau vorgezogen wurde, weil andernfalls bei den 1946 anstehenden Wahlen zutage treten würde, dass nicht die KPD, sondern die SPD die Partei mit den meisten Anhängern sei (was ihren Anspruch auf die „führende Rolle“ untergraben hätte, S. 167–181, insbes. S. 178–180). Zum anderen ist der Umgang mit der CDU als der kräftigsten „bürgerlichen Partei“ aufschlussreich, deren Vorsitzende zweimal gehen mussten (Ende 1945 Andreas Hermes und Ende 1947 Jakob Kaiser). Besonders dramatisch war die nur mit größter Mühe und durch direktes sowjetisches Eingreifen herbeigeführte Entfernung Kaisers (S. 218–229 bzw. S. 92–95 in der Einleitung). Interessant in diesem Kontext ist auch die von Stalin veranlasste Gründung der von kom­mu­nis­tischen Kadern geführten „bürgerlichen Parteien“ DBP und NDPD (S. 241–251 bzw. S. 96 f. in der Einleitung).

Der vom Herausgeber perfekt edierte Tjulpanov-Bericht ist unverzichtbar für jeden Historiker, der sich mit der Entwicklung der SBZ in den Nachkriegsjahren beschäftigt. Selten stößt man in Moskauer Archiven auf derart inhaltsreiche und aussagekräftige Dokumente, die es erlauben, Rückschlüsse auf Stalins Deutschlandpolitik zu ziehen. Es ist der große Verdienst des Herausgebers, dieses Schlüsseldokument nun einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu haben.

Peter Ruggenthaler, Graz

Zitierweise: Peter Ruggenthaler über: Gerhard Wettig (Hrsg.): Der Tjul'panov-Bericht. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen: V&R unipress, 2012. 424 S., Tab. = Berichte und Studien, 63. ISBN: 978-3-8471-0002-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ruggenthaler_Wettig_Tjulpanov-Bericht.html (Datum des Seitenbesuchs)

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