Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Stefan Troebst unter Mitarbeit von Susan Baumgartl. Göttingen: Wallenstein, 2010. 648 S. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 5. ISBN: 978-3-8353-0637-0.

Die Erinnerung an die Diktaturen in Bulgarien, Griechenland, Lettland, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien und der Ukraine ist das Thema dieses Bandes, der deutsch- und englischsprachige Beiträge von vierzehn Autoren einschließt. In der Einführung geht Stefan Troebst zunächst auf die theoretischen Zusammenhänge zwischen der Erinnerungskultur und der Geschichtskultur und -politik ein. Danach erörtert er die Frage, ob der Vergleich verschiedener nichtdemokratischer und diktatorischer Regime zu deren Bewältigung führen bzw. beitragen kann.

Im ersten empirischen Beitrag stellt Manuel Loff dar, wie sich das 48 Jahre bestehende Regime des portugiesischen Diktators António de Oliveira Salazar wandelte und wie schwierig der Prozess der Aufarbeitung dieses Regimes verlief. Die portugiesische Diktatur faschisierte sich zunächst ganz im Stil des europäischen Faschismus, nahm dann aber bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges Abschied von dieser in Verruf geratenen politischen Strömung, um in der letzten Phase brutale Kolonialkriege zu führen und ihre Existenz mit einem relativen wirtschaftlichen Wachstum zu legitimieren. Der Prozess der Aufarbeitung nach dem Fall des Systems zeichnete sich zuerst durch das charakteristische konservative Schweigen, Romantisieren, Nostalgisieren und Verdrängen aus, bis es schließlich 1994 in Portugal zu einer Debatte kam, die Loff „Memory’s Uprising“ (S. 92) nennt.

Admation Skorados behandelt die Diktatur der fast ausschließlich aus Obristen bestehenden, fünfzehnköpfigen griechischen Junta unter der Führung des Generals Georgios Papadopoulos, die 1967 „aufgrund der ‚Gefahr‘ einer Demokratisierung“ die Macht übernahm und sie bis 1974 nicht abgab (S. 124). Skorados stellt die interessante These auf, dass der „Diktator Papadopoulos und seine Komplizen […] durch ihren hysterischen Antikommunismus und kitschigen hellenochristlichen Überpatriotismus“ selbst den Sturz ihrer eigener Diktatur vorangetrieben hätten (S. 130). Sehr interessant ist auch Skoropados’ Darstellung der nicht eindeutigen Wahrnehmung der Junta, die eine Brücke zur Frage der Erinnerung und Aufarbeitung schlägt.

Die Diktatur des spanischen Caudillo wird in zwei Beiträgen thematisiert. Im ersten erklären Xosé Manuel Núñez und Andreas Stucki wie die „nationale Versöhnung“ die gesellschaftliche Aufarbeitung der bis 1975 dauernden franquistisch-faschistischen Diktatur verhinderte und wie die konservative Volkspartei mit ihrer „neofranquistischen Propaganda“ jahrelang eine gesellschaftliche Selbstzensur durchsetzte (S. 216–217). Im zweiten Beitrag erörtert Carsten Humlebaek die Frage nach der Aufarbeitung der franquistischen Diktatur im Kontext der „langen“ spanischen Geschichte und der regional-nationalen Vielfalt des Landes. Dabei wird deutlich, dass das an Verdrängen grenzende Überbetonen solcher positiv besetzter Ereignisse wie der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus gar nicht förderlich für den Prozess der Aufarbeitung der Geschichte ist. Ähnlich gestaltet sich die Frage der regionalen Nationalismen der Basken und Katalanen, die ihre eigenen nationalen Projekte dem Prozess der Demokratisierung vorziehen (S. 293, 302).

Krzysztof Ruchniewicz  setzt sich mit der Geschichtspolitik Polens, dem wohl merkwürdigsten Nachwendephänomen schlechthin, auseinander. Während sich vor der Wende die kommunistische Geschichtsdeutung wegen des „Kultes eines opferbereiten Patriotismus“ und der „Neigung der polnischen Seele zum Märtyrertum“ nicht durchsetzen konnte (S. 309, 312), wurde sie nach der Wende von den Protagonisten der Geschichtspolitik dazu missbraucht, einen gegen wissenschaftliche Reflexion gerichteten Patriotismus als den einzig richtigen Zugang zur Geschichte zu etablieren (S. 315). Der Autor weist auf einige schwierige Fragen der polnischen Geschichte hin, etwa die Beziehungen Polens zu seinen deutschen und ukrainischen Nachbarn oder die polnisch-jüdischen Beziehungen, deren Aufarbeitung durch den Patriotismus und die vom Patriotismus unterwanderte Geschichtspolitik erschwert wurde. Interessanterweise meint er aber dann, dass ein anderer Patriotismus, ein sogenannter „kritischer Patriotismus“, den er dem „Patriotismus der Niederlage“ entgegensetzt, eine Lösung dieser Probleme sein könnte (S. 316, 319, 329).

Daina Bleiere setzt sich in ihrem Beitrag mit der sowjetischen und der einheimischen Diktatur in Litauen auseinander, deren Aufarbeitung sehr stark durch ihre verfeindete Natur beeinflusst ist. Dieses Problem ist eher die Regel als die Ausnahme in einigen ehemaligen europäischen Republiken der Sowjetunion. Die durch die kommunistische Besatzung bedingte Tradition der Verleugnung und Verdrängung des eignen Faschismus, Antisemitismus und der eigenen Verbrechen, die zum Beispiel den national-konservativen Diktator Karlis Ulmanis als einen Demokraten präsentiert, wurde bereits in den fünfziger Jahren stark von den lettischen Veteranen der 15. und 19. Waffen-SS-Division geprägt, die sich im Exil selbst als antikommunistische und vaterlandsliebende Nationalhelden feierten (S. 337, 339).

Die Beiträge von Iskra Baeva, Evgenija Kalinova und Nikolaj Poppetrov über Bulgarien und von Cristina Petrescu und Dragoş Petrescu über Rumänien demonstrieren, dass die kommunistische Diktatur in beiden Ländern die absolut vorherrschende Aufmerksamkeit genießt. Dabei ist hervorzuheben, dass vor allem Rumänien sich im 20. Jahrhundert nicht nur unter der Herrschaft eines einzigen undemokratischen Regime befand und dass es im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der Achsenmächte in den Holocaust und andere Verbrechen verwickelt war, was von den Autoren des Rumänienbeitrags nur am Rande erwähnt wird (z. B. S. 529). Aus beiden Beiträgen wird deshalb auch deutlich, dass die Erinnerung an den Kommunismus, die den Erinnernden den Status eines Opfers verleiht, die Erinnerung an das eigene undemokratische System und an sich selbst in der Rolle des Täters stark in den Hintergrund drängt.

Im letzten Beitrag setzt sich Georgiy Kasianov mit der Politisierung der Hungersnot von 1932–1933 in der Ukraine nach 1990 auseinander. Kasianov arbeitet heraus, dass vor allem der vorletzte ukrainische Präsident Viktor Juščenko die Hungersnot zu einem prominenten Leidenssymbol der ganzen ukrainischen Nation zu etablieren versuchte. Aus diesem Grund wurde die Hungersnot in der Ukraine zu einem Genozid erklärt, für dessen Leugnung dieselben Strafandrohungen wie für die Leugnung des Holocausts stehen. Der politische Plan, die Hungersnot mit dem Holocaust gleichzusetzen, stieß jedoch außerhalb der Ukraine aus verständlichen Gründen selbst unter nationalistischen, konservativen und rechtsradikalen Politikern auf wenig Verständnis.

Zusammenfassend kann man die Lektüre des Sammelbandes nur empfehlen, weil er einen interessanten komparativen Überblick über die Erinnerung an die süd- und osteuropäischen Diktaturen bietet. Einzuwenden ist aber eine gewisse Einseitigkeit einiger Beitragsautoren im Umgang mit den Diktaturen, die sich in Osteuropa keinesfalls nur auf kommunistisch-sowjetische Regime reduzieren lassen. Auch die national-konservativen und faschistischen Diktaturen sind ein Stück osteuropäischer Geschichte, die der Demokratie wegen aufgearbeitet werden müssten. Ob die erinnerungskulturelle Herangehensweise an die Geschichte diese Aufarbeitung unterstützt oder eher behindert, ist an dieser Stelle nicht zu bestimmen.

Grzegorz Rossoliński-Liebe, Berlin

Zitierweise: Grzegorz Rossoliński-Liebe über: Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahmen und Forschungsperspektiven. Hrsg. von Stefan Troebst unter Mitarbeit von Susan Baumgartl. Göttingen: Wallenstein, 2010. 648 S. = Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, 5. ISBN: 978-3-8353-0637-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rossolinski-Liebe_Troebst_Postdiktaturische_Geschichtskulturen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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