Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 4: Reflexionen. Hrsg. Von Hans Henning Hahn und Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2013. 393 S. ISBN: 978-3-506-77342-5.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1017617821/04

 

Der vierte Band des groß angelegten Projekts Deutsch-Polnische Erinnerungsorte ist dem reflexiven Umgang mit der Erinnerung und dem von Pierre Nora geprägten Konzept der Erinnerungsorte gewidmet. Er setzt sich mit den deutsch-polnischen Erinnerungskulturen auseinander, zeigt, von welchen Faktoren die Erinnerung in den beiden Ländern geprägt ist und ob man von einer gemeinsamen Erinnerung sprechen kann. Die Publikation erweitert das nationale Konzept der Erinnerungsgeschichte um einen bi- und transnationalen Ansatz, der schon in anderen Projekten vorgestellt wurde (siehe zum Beispiel: Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa. Hrsg. von Jacques LeRider / Moritz Csáky / Monika Sommer. Innsbruck 2002). Der Band umfasst 25 Beiträge unterschiedlicher Qualität, die verschiedene Aspekte des Themas beleuchten und den theoretischen Umgang mit der Erinnerung und ihrer Bi- bzw. Transnationalität in drei Sektionen diskutieren.

Die erste Sektion behandelt den internationalen und interdisziplinären Kontext der deutsch-polnischen Erinnerung. Michael G. Müller stellt verschiedene Konzepte der transnationalen Geschichte und Beziehungsgeschichte vor und überlegt, wie die geteilten Erinnerungsorte im deutsch-polnischen Kontext methodologisch aufzufassen sind. Mo­ritz Csáky präsentiert in einem sehr elegant geschriebenen Beitrag seine Überlegungen über die Paradoxa der ostmitteleuropäischen Erinnerung und dekonstruiert den in durchaus vielen mittelosteuropäischen Elite- und Akademikergruppen vorherrschenden Wunsch nach nationalen, authentischen oder reinen Traditionen, wodurch er das Konzept der nationalen Erinnerungsorte und einer nationalen Erinnerungskultur hinterfragt. Martin Aust geht der Frage der polnischen Obsession mit der Vergangenheit nach, insbesondere mit den historischen Daten, und untersucht die Rolle, die diese „patriotische Kabbalistik“ für die polnische Identität spielt. Ähnlich wie Csáky argumentiert er, dass die „Geschichtskultur eines Landes nicht alleine aus sich selbst heraus begriffen werden kann“, weil sie mit Geschichtskulturen anderer Länder sowie Regionen und Kontinenten verflochten ist und nicht auf eine selbständige Entität reduziert werden kann. Heinz Duchhardt und Étienne François widmen sich der Frage der Durchführbarkeit einer Studie über die europäischen Gedächtnis- und Erinnerungsorte.

Die zweite Sektion führt die Thematik des methodologischen Umgangs mit der Erinnerungsforschung weiter aus. Kornelia Kończal erklärt, wie das Konzept der Erinnerungsorte in mehreren europäischen Ländern rezipiert wurde, und sieht die nationalen Rezeptionen des von Pierre Nora formulierten Ansatzes als einen Erfolg, ohne sich jedoch mit Csáky und weiteren Kritikern der nationalen Erinnerungskulturen auseinandersetzen. Hubert Orłowski zeigt am Beispiel des Begriffs „polnische Wirt(h)­schaft“, auf welche Schwierigkeiten man bei der Analyse der Langlebigkeit der Stereotype im deutsch-polnischen Kontext stößt. Christian Gudehus und Harald Welzer stellen das Konzept der Tradierung am Beispiel des Umgangs mit den nationalsozialistischen Verbrechen dar und überlegen, wie er in Osteuropa angewendet werden könnte, wo die eigene Beteiligung am Holocaust sowie die Kollaboration mit den Nationalsozialisten bis heute marginalisiert, verdrängt und nicht erinnert wird, was auch in diesem Band an der Nichtberücksichtigung eines entsprechenden Ansatzes deutlich wird. Heidi Hein-Kircher zeigt die Relevanz der politischen Mythen in der Erinnerungskultur und Andreas Lawaty weist auf die Funktion, die kulturelles Vergessen bei der politischen Erinnerung erfüllt, hin. Hans Henning Hahn erklärt, wie sich das Konzept der Geschichtspolitik in Deutschland entwickelt hat und welche Rolle es bei der nationalen und transnationalen Erinnerung spielen könnte. Jerzy Jedlicki setzt sich mit der Frage auseinander, wie das kollektive Gedächtnis in Polen die autobiographischen Gedächtnisse beeinflusst bzw. verändert, und weist auf die Aufgabe des Historikers hin, der das kollektive Gedächtnis zu hinterfragen hat und die Vergangenheit durch Verstehen und Beurteilen zum Vorschein bringen soll. Georg Kreis diskutiert die vorherrschenden Erinnerungsformen in der Schweiz und das Verhältnis zwischen positiven und negativen Erinnerungen in diesem Land.

Die letzte Sektion umfasst Beiträge, die sich mit dem Verhältnis zwischen Erinnerung und Wissenschaft im deutsch-polnischen Kontext auseinandersetzen. Maciej Górny erklärt, welche Rolle die Historiographie im Gedächtnis verschiedener ostmitteleuropäischer Völker erfüllte und wie sie sich gleichzeitig vom Gedächtnis beeinflussen ließ. In seinem zweiten Beitrag geht er der Frage nach, wie die Rassenkunde die Erinnerungskulturen beeinflusste und wie die Rasse im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer wesentlichen Wahrnehmungskategorie wurde. Anna Zalewska erörtert die Rolle der Archäologie bei der Konstruktion von Erinnerungen und Erinnerungsgemeinschaften in Polen und Deutschland und Tobias Wagner tut dies mit der Volkskunde. Joanna Wawrzyniak erklärt, wie die Soziologie die Erinnerungsforschung geprägt hat, und Izabela Surynt zeigt, wie die Kanonisierung, Entkanonisierung und Rekanonisierung der deutschen und polnischen Literatur das kulturelle Gedächtnis in beiden Ländern geprägt hat. Beate Störtkuhl stellte den Einfluss der Kunstgeschichte, Kunstkritik und Denkmalpflege auf die Formierung der Gedächtniskultur und die Konstruktion von Geschichtsbildern an verschiedenen deutschen und polnischen Beispielen dar. Rüdiger Ritter setzt sich mit Konstruktion und Rekonstruktion von literarischen Erinnerungslandschaften auseinander und präsentiert das Konzept des akustischen Gedächtnisses. Peter Steinbach erläutert, wie die Geisteswissenschaften in Westdeutschland demokratisiert wurden und wie dieser Prozess den Umgang mit der Vergangenheit und dadurch auch die Erinnerung an die Vergangenheit verändert hat. Urte Kocka und Violetta Julkowska zeigen, welche Rolle die Erinnerung in der Geschichtsdidaktik in Deutschland und in Polen spielt.

Die in diesem Band präsentierten Beiträge stellen ein breites Spektrum von theoretischen Erinnerungsansätzen dar, gehen auf verschiedene Fragen des reflexiven Umgangs mit der Erinnerung ein und zeigen, wie die transnationale Erinnerung am deutsch-polnischen Beispiel funktioniert. Ebenso erklären sie den Einfluss verschiedener Disziplinen auf das Gedächtnis und setzten sich mit solchen Konzepten wie der Erinnerungskultur und der Gedächtnispolitik auseinander. Der Band zeigt, dass in Deutschland und Polen verschiedene thematische Schwerpunkte bei der Untersuchung der Erinnerung vorherrschen und dass bestimmte Fragen in den jeweiligen Ländern vermieden werden. Während sich die Erinnerungsforschung in Polen mit Fragen nach Stereotypen, nationalen Konzepten oder der Methodologie beschäftigt, spielt in Deutschland die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die transnationale Geschichte und die Geschichtspolitik eine wichtige Rolle. Auffallend ist, dass der reflexive Umgang mit bestimmten Erinnerungsaspekten, die viele transnationale Elemente aufweisen und gerade in einem deutsch-polnischen Projekt eine wichtige Rolle spielen könnten, wie die Erinnerung an die polnische Beteiligung am Holocaust oder die deutsch-polnische Kollaboration im Zweiten Weltkrieg, von allen beteiligten Seiten ausgelassen wird.

Grzegorz Rossoliński-Liebe, Berlin

Zitierweise: Grzegorz Rossoliński-Liebe über: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 4: Reflexionen. Hrsg. Von Hans Henning Hahn und Robert Traba unter Mitarbeit von Maciej Górny und Kornelia Kończal. Paderborn, München, Wien [usw.]: Schöningh, 2013. 393 S. ISBN: 978-3-506-77342-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rossolinski-Liebe_Hahn_Deutsch-polnische_Erinnerungsorte_4.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Grzegorz Rossoliński-Liebe. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.