Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945. Hrsg. von Jochen Böhler und Stephan Lehnstaedt. Osnabrück: fibre, 2012. 566 S., 18 Abb. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 26. ISBN: 978-3-938400-70-8.

Der Sammelband ist aus einer Konferenz hervorgegangen, die im November 2009 vom Deutschen Historischen Institut in Warschau in Zusammenarbeit mit dem Danziger Museum des Zweiten Weltkrieges organisiert wurde. Er besteht aus 26 Beiträgen verschiedener Qualität, die in vier Sektionen (Neue Herrschaftsformen, Neue Eliten, Ethnisierung des Alltags, Widerstand und Kampf) gegliedert sind und sich den drei Themenbereichen Alltagsgeschichte, Gewalt und Vergleich zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich widmen (S. 16). Die Herausgeber weisen im Vorwort darauf hin, dass sie die deutschen Historiker, deren aktuelle Studien sich „meist auf die nationalsozialistische Besatzung beschränken“, mit den polnischen Wissenschaftlern vernetzen wollten, die „die sowjetische Okkupation besonders in den Blick genommen haben“ (S. 9.). Angesichts des Themas des Sammelbandes, der daraus folgenden Fragen und des Standes der Forschung zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust in Polen fällt jedoch bereits in der Einleitung auf, dass in der Publikation einige thematische Einschränkungen vorgenommen wurden, wodurch nur bestimmte Arten der Gewalt analysiert werden. So werden Themen wie die polnische Beteiligung am Judenmord oder die Kollaboration mit den deutschen und sowjetischen Besatzern im Sammelband nicht als Teile der Gewalt und des Alltags verstanden.

Den Anfang macht ein vorwortartiger Beitrag von Timothy Snyder, der das Konzept des Bandes als „brilliant and fruitful“ bezeichnet (S. 11). Lehnstaedt wiederholt Snyders These vom stalinistischen und nationalsozialistischen Terror in Osteuropa, die nach der Publikation von „Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“ von mehreren Holocaust- und Osteuropahistorikern kritisiert wurde (S. 15), weil sie sich mit der Thematik der Kollaboration und der nicht-deutschen und nicht-sowjetischen Massengewalt in den „Bloodlands“ nicht auseinandersetze. In der ersten Sektion analysiert Daniel Baćkowski die sowjetische Rechtsprechung in den besetzten Gebieten der Zweiten Polnischen Republik. Alexa Stiller beschreibt die Praktiken des Apparats des Reichskommissars für die Festigung Deutschen Volkstums, das die Menschen im Bereich der von Deutschland besetzten Länder umsiedelte, um die rassistischen Phantasien der Nationalsozialisten in Realität zu verwandeln. Ryszard Ryś beschreibt die Zwangsrekrutierung von Polen in den polnischen Ostgebieten zur Roten Armee. Jochen Böhler stellt anhand eines Fotoalbums die „heile Welt“ von Eduard Schmidt, eines deutschen Polizisten, dar, der in Polen stationiert war und neben dienstlichen Massenerschießungen und anderen Repressionen ein beunruhigend normales Leben lebte. Wie viele andere Täter entging Schmidt nach dem Krieg der Bestrafung, weil die westdeutschen Strafverfolgungsbehörden zu der nicht weniger beunruhigenden Überzeugung kamen, dass die von ihm und anderen nationalistischen Tätern durchgeführten Exekutionen rechtmäßig gewesen waren (S. 107). Andrej Angrick diskutiert die Tötungstechniken, die bei der Vernichtung der europäischen Juden von den Deutschen praktiziert und immer effektiver gemacht wurden.

In der Sektion über neue Eliten zeigt Anna Zapalec, wie die Verwaltung in den polnischen Ostgebieten unter der sowjetischen Besatzung umstrukturiert wurde und wie die Sowjetunion die Besetzung der polnischen Gebiete propagandistisch legitimierte. Piotr Kołakowski beschreibt die Tätigkeit des NKVD in den polnischen Ostgebieten und stellt unter anderem die Massendeportationen und die Massenerschießungen, die vom sowjetischen Sicherheitsapparat praktiziert wurden, dar. Marek Wierzbicki analysiert den Elitenwechsel in den von der Sowjetunion besetzten polnischen Territorien. Peter Klein erklärt die Politik Arthur Greisers, des Gauleiters in Reichsgau Wartheland. Stephan Lehnstaedt beschreibt den Alltag der Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg in Warschau verbrachten, und zeigt auf, wie das deutsche Besatzungspersonal von den arisierten Gütern profitierte und das Verbot der „Rassenschande“ durch Geschlechtsverkehr massenweise ignorierte (S. 214, 217–220).

Die dritte Sektion beginnt mit Felix Ackermanns Beitrag über die ethnischen Aspekte der deutschen und sowjetischen Politik in Grodno zwischen 1939 und 1949. Isabel Heinemann erklärt, wie deutsche Behörden, Heinrich Himmlers Politik der „Rückgewinnung deutschen Blutes“ folgend, ca. 35.000 Polen umsiedelten, um sie zu „vollwertigen Deutschen“ zu machen (S. 256). Małgorzata Stepko-Pape setzt sich mit der NS-Bevölkerungspolitik im besetzen Gdingen auseinander, das nach dem Ersten Weltkrieg als eine polnische Hafenstadt gebaut wurde und wo während der deutschen Besatzung massenweise Polen ausgesiedelt und Deutsche angesiedelt wurden, um die Stadt in das deutsche Gotenhafen zu verwandeln (S. 280, 287–291). Marek Sitarek und Michał Trębacz erklären, wie die deutschen Besatzer das jüdisch-polnisch-deutsche Łódź in ein rein deutsches Litzmannstadt zu verwandeln versuchten und dabei, wie in vielen anderen besetzten Orten, Juden ghettoisierten, vernichteten und die Polen verfolgten, ermordeten oder umsiedelten. Tarik Cyril Amar erläutert die Auswirkungen der sowjetischen und deutschen Besatzungspolitik auf die Stadtbevölkerung Lembergs, die sich zwischen 1940 und 1945 fast vollkommen änderte. Aleksandr Gogun schildert das Verhalten der sowjetischen Partisanen und die Nationalitätenkonflikte in der Ukraine und weist auf die nicht immer positive Einstellung zu Juden hin, die in einigen Partisanenverbänden herrschte (S. 335–336). Adam Puławski diskutiert, wie der polnische Untergrundstaat auf die Ermordung der Juden reagierte. Dabei wird deutlich, dass der Antisemitismus im polnisch-nationalen Untergrund im Krieg durchaus verbreitet gewesen war, obwohl der polnische Untergrund die Alliierten über den Judenmord informierte und davor warnte. Ebenso erinnert dieser Beitrag daran, dass die Heimatarmee viel misstrauischer gegenüber den Juden eingestellt war als der polnisch-kommunistische Untergrund (S. 370, 388).

In der letzten Sektion analysiert Sara Bender das Schicksal der Juden in Białystok und erklärt, wie verschiedene Gruppen von Juden im Białystoker Ghetto zu der Idee des Widerstandes eingestellt waren. Piotr Gontarczyk verdeutlicht, wie polnische Kommunisten den polnischen Patriotismus in ihre Propaganda integrierten, um an Popularität zu gewinnen (S. 428–431). Des Weiteren hebt der Autor die angebliche Involvierung des polnisch-kommunistischen Untergrunds in den Holocaust hervor, ohne darauf hinzuweisen, dass die Heimatarmee und die Nationalen Streitkräfte, die er als heldenhafte Opfer des kommunistischen Untergrunds versteht, wesentlich mehr am Holocaust beteiligt waren. (S. 428, 434–435). Janusz Marszalec analysiert ebenso den polnisch-nationalen Untergrund sowie die polnischen Kommunisten und wiederholt einige Fakten und Thesen, die in Gontarczyks Beitrag dargestellt wurden (z.B. S. 456). Grzegorz Motyka vergleicht die litauische und ukrainische nationalistische Bewegung. Er arbeitet klar die von diesen Bewegungen verübten Massaker, ihre Kollaboration mit den Deutschen und ihren fanatischen Kampf gegen die sowjetischen Besatzer heraus. Daniel Brewing beschreibt die deutsche Politik der Partisanenbekämpfung im Generalgouvernement und weist darauf hin, dass sie als ein Deckname für Kriegsverbrechen gegen Zivilisten verwendet wurde (S. 513–514). In dem letzten Beitrag des Bandes schildert Rafał Wnuk den Kampf des NKVD gegen den polnischen Untergrund.

Der vorliegende Band versammelt viele interessante Beiträge, die verschiedene Aspekte des Alltagslebens und der von den deutschen und sowjetischen Besatzern praktizierten Gewalt erklären. Jedoch lässt er ebenso viele wichtige Aspekte der Gewalt und des Alltags aus, die den verschiedenen Formen polnischer Beteiligung am Holocaust oder der Zusammenarbeit mit den deutschen und sowjetischen Besatzern zuzuordnen sind. Nur wenige Beiträge behandeln diese Themen am Rande, was insgesamt den Eindruck hervorruft, dass Polen fast ausschließlich nur Opfer des deutschen und sowjetischen Besatzungssystems waren. Diese Themenfelder werden jedoch seit über zwei Jahrzehnten von Historikern wie Barbara Engelking, Jan Grabowski, Alina Skibińska, Antony Polonsky, Jan Tomasz Gross, Klaus-Peter Friedrich, Joanna Michlic, Dariusz Libionka und einigen anderen erforscht und sind keineswegs weniger bedeutend für das Verständnis der Gewalt und des Alltags im besetzen Polen als die ins Zentrum gerückte Gewalt der deutschen und sowjetischen Besatzer.

Grzegorz Rossoliński-Liebe, Berlin

Zitierweise: Grzegorz Rossoliński-Liebe über: Gewalt und Alltag im besetzten Polen 1939–1945. Hrsg. von Jochen Böhler und Stephan Lehnstaedt. Osnabrück: fibre, 2012. 566 S., 18 Abb. = Einzelveröffentlichungen des DHI Warschau, 26. ISBN: 978-3-938400-70-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rossolinski-Liebe_Boehler_Gewalt_und_Alltag_im_besetzten_Polen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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