Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Stefan Rohdewald

 

Problemy otečestvennoj istorii. Istočniki, istoriografija, issledovanija. Sbornik naučnych statej. [Probleme der vaterländischen Geschichte. Quellen, Historiographie, Forschungen. Aufsatzsammlung]. Redkol.: M. N. Baryšnikov, A. V. Golubev i drugie. Otv. red. M. V. Druzin. S.-Peterburg [etc.]: Nestor-Istorija; S.-Peterburgskij institut istorii RAN; Institut istorii Ukrainy NAN Ukrainy, Belorusskij gosudarstvennyj universitet, 2008. 681 S. ISBN: 978-5981-87297-6.

Die Herausgeber formulieren im Vorwort des Sammelbandes die Hoffnung, mit der Veröffentlichung den Grundstein für ein möglichst jährlich erscheinendes, aber offenbar noch nicht definitiv etabliertes Periodikum zu setzen: Die Publikation enthält keine entsprechenden bibliographischen Angaben. An erster Stelle steht hingegen eine Erklärung des Titels des Bandes: Durch den Zerfall der Sowjetunion habe sich dieGeschichtswissenschaft der einst miteinander verbundenen Republiken“ auseinander bewegt. Aber die Erforschungder vaterländischen Geschichte“ habe sich fortgesetzt,ohne sich auf die Untersuchung der Vergangenheit nur des eigenen Landes [dasjenige des jeweiligen Verfassers, S.R.] zu beschränken, sondern den gesamten historischen Hintergrund der Alten Rusumfassenddas Moskauer Zartum und seine nächsten Nachbarndas Russländische Imperiumdie UdSSR.  Das Anliegen des russischen, weißrussischen  und ukrainischen Herausgebergremiums ist es gemäß der Einleitung, nach 1991 entstandene neue Diskurse, die nationale Staatlichkeit jenseits Moskaus und Petersburgs legitimieren, auszuhebeln. Zudem sollten Historiker aus allen Regionen Russlands stärker mit in die wissenschaftliche Debatte einbezogen werden. Das Ziel ist es, eine übergreifendevaterländische“ undso der naheliegende Anfangsverdacht des Rezensentenimplizit eine russländische Deutungshoheit der Geschichte wiederherzustellen.

Der Sammelband gliedert sich in Teile zu Quellen, zur Historiographie, und zu Einzelforschungen. Der erste Teil ist dem Gedenken der Akademiker Vladimir V. Mavrodin, Semen B. Okun, Aleksandr L. Šapiro und Boris A. Rybakov gewidmet. Die Herausgeberin Natalja N. Jusova entschuldigt sich aber dafür, nur Texte mit Bezug auf den Leningrader Mediävisten Mavrodin zu veröffentlichen: Auf Gedenkreden folgen Hinweise auf dessen Nachlass und Editionen. In der weiteren Besprechung der mehr als fünfzig, meist knappen Einzelbeiträge beschränke ich mich auf jene wenigen, die über dasvaterländische“, ukrainisch-belarusisch-russische Verhältnis besonderen Aufschluss versprechen.

Der Minsker Historiker A. Ju. Bendin wendet den Blick auf die zarische Politik gegenüber der römisch-katholischen Kirche imNordwestlichen Gebiet“ des Russländischen Reiches und arbeitet den Umgang mit Widerstand gegenüber der staatlichen Bestrebung nach konfessioneller Homogenisierung heraus. Im Einklang mit dem Ausklammern belarusischer Forschung in der Bibliographie nimmt der Beitrag aber nicht auf andere Perspektiven Bezug.

Vielversprechend erscheint der komparatistische Beitrag von A. V. Mišina und A. S. Senajvskij: Die Moskauer Historiker vergleichen die Politik der Bolševiki in Russland und in der Ukraine von 1917 bis 1919. Der unangepasste Einsatz von in zentralen Gebieten Russlands erprobten Methoden auch in der Ukraine habe das Verhältnis zu den ukrainischen Bauern zerrüttet. Aufstände führten zum vorläufigen Abzug.

Der gleichfalls informative Aufsatz des Kiewer Historikers M. V. Michajljuk über dieDeutsche Propaganda in der Ukraine (19411944)“ betritt weitgehend Neuland. Er revidiert abervaterländische“ ostslawische Geschichte nur insofern, als weder der in Russland weiterhin gültige sowjetische BegriffGroßer Vaterländischer Krieg“ noch der TerminusZweiter Weltkrieg“ verwendet werden.

Der Aufsatz des Moskauer Historikers A. P. Fedorovič überProbleme der russländisch-ukrainischen Beziehungen der 1990er Jahrethematisiert die Diskussionen über den Status der Krim sowie der Schwarzmeerflotte und das Verhältnis der Ukraine zur Nato und fordert eine verstärkte globale systematische Einordnung dieser Kommunikationsstränge. So genanntVaterländisches“ wird in dem Text mit Gewinn nicht beschworen. Auffälligerweise fehlen allerdings mit einer einzigen Ausnahme Titel aus der Ukraine (abgesehen von auf der Halbinsel Krim publizierten russischsprachigen Texten) im Literaturverzeichnis.

Die Thesen des Vorworts, das den überwiegend faktographisch ausgerichteten Sammelband einleitet, haben folglich wenig mit dem Inhalt dieser und der übrigen Beiträge zu tun: Texte zu ukrainischen oder belarusischen Themen sind unterproportional vertreten. Immerhin enthält der Band mehrere Beiträge auch aus peripheren Gebieten Russlands. Sollte mit dem Band in der Tat eine neue Zeitschrift begründet werden, ist den Herausgebern für ihr weiteres Erscheinen eine deutlichere methodische und theoretische Profilierung nahezulegen, etwa unter postimperialen Vorzeichen. Jedenfalls empfiehlt sich aber eine Abkehr vom affirmativen imperialen Patriotismus, der in diesem, Kiew, Moskau und Minsk übergreifenden, Zusammenhang mit dem Adjektivvaterländisch“ verbunden ist. Wegweisend können hierzu gerade die Sammelrezensionsbeiträge sein, die in demselben Band von Kiewer und Minsker Historikern über allerdings (konsequenterweise) so genanntausländische, d.h. in der Mehrheit angelsächsische, Forschungen vorgelegt werden.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Problemy otečestvennoj istorii. Istočniki, istoriografija, issledovanija. Sbornik naučnych statej. [Probleme der russischen Geschichte. Quellen, Historiographie, Forschungen. Aufsatzsammlung]. Redkol.: M. N. Baryšnikov, A. V. Golubev i drugie. Otv. red. M. V. Druzin. S.-Peterburg [etc.]: Nestor-Istorija; S.-Peterburgskij institut istorii RAN; Institut istorii Ukrainy NAN Ukrainy, Belorusskij gosudarstvennyj universitet, 2008. 681 S. ISBN: 978-5981-87297-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rohdewald_Druzin_Problemy_otecestvennoj_istorii.html (Datum des Seitenbesuchs)

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