Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band jgo.e-reviews 1 (2011), 2, S.  

Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Stefan Rohdewald

 

Tomas Balkelis: The Making of Modern Lithuania. London, New York: Routledge, 2009. XXVII, 176 S. = Basees/Routledge series on Russian and East European studies, 56. ISBN: 978-0-415-45470-4.

Balkelis legt eine vergleichsweise schmale, aber sehr dichte Studie zur Entstehung der modernen litauischen Nationalbewegung vor. Auf der Höhe der theoretischen Debatte zeichnet er in mehreren Skizzen und Längsschnitten zentrale Etappen und Bereiche der Entwicklungen. Sein Ausgangspunkt ist die Lage Litauens am Westrand des russländischen Vielvölkerreiches, das vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an zunehmenden Russifizierungstendenzen im Sinne der Eingliederung in den Verwaltungsstaat ausgesetzt war. Die spärlichen und disparaten Aspekte des landadligen litauischen Patriotismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bleiben wegen dessen wenig spürbaren Wirkungen nur knapp angesprochen. Die Enteignungen von Teilnehmern am polnischen Januaraufstand 1863 hingegen erwiesen sich als wichtig für die Stärkung des Landbesitzes unter litauischen Bauern.

Balkelis zeigt, wie die Sozialisierung junger Studenten an den Universitäten der Hauptstädte häufig zu einer Integration in den russischen Zusammenhang führte und nur selten zur Stärkung einer litauischen Identität. Sodann schildert er, wie in den Städten der Region und besonders in Wilna neue Identitäten und Netzwerke, die durch ihr mit literarischen Mitteln betriebenes nationales Engagement gekennzeichnet waren, aus dem Kampf einer sich erst entwickelnden sozialen Gruppe um ihren Status entstanden. Zentral ist das Beispiel der wichtigsten national orientierten Tageszeitung, die nach der Legalisierung von Veröffentlichungen in litauischer Sprache 1904 bis zum Bankrott der Herausgeber 1909 erschien; letzterer war symptomatisch für die Schwäche der Bewegung. Die Revolution von 1905 illustriert, wie sehr die ohnehin schmale Intelligencija überdies in sozialistische und nationale Strömungen fragmentiert war. Während der ersten Hälfte des Jahres 1905 entwickelte sich eine Kooperation litauischer, polnischer und jüdischer Sozialisten. Die alternative Richtung polnisch-litauischer Regionalisten (krajowcy) war ein kurzer Höhepunkt in der Zusammenarbeit polnischer und litauischer Eliten, die im Zusammenhang mit den sozialen Unruhen 1905 zusammenbrach.

Ein exemplarisches Kapitel zur „Suche nach nationalen Bräuten“ gibt Einblick in die kulturelle Konstruktion von Geschlechtlichkeit sowie in praktische Probleme bei der Kommunikation zwischen meist männlichen, städtischen, national ausgerichteten Literaten und häufig auf dem Lande lebenden Frauen litauischer Muttersprache.

Erst für die Zeit von 1906 bis 1914 beobachtet Balkelis die Entstehung einer „nationalen Kultur“. Wesentlich ist die Erkenntnis, dass die Imagination einer nationalen Gemeinschaft mit „disziplinierenden kulturellen Strategien“ verbunden war, die Homogenität und Zusammenhalt erzeugen wie auch erzwingen sollten. Trotz des Erscheinens progressiver weltlicher Zeitschriften und Zeitungen fand dabei der konservative nationale litauische Klerus mehr Zuspruch. Erst in der Emigration während des Krieges lassen sich explizite Forderungen nach politischer Unabhängigkeit auf nationaler Basis feststellen. Anders als Hroch erkennt Balkelis erst in den Kriegsjahren oder danach die Phase des Übergangs der Strömung in eine Massenbewegung. Angesichts der dennoch andauernden relativen Schwäche der litauischen Nationalisten gerade in den Städten Litauens und besonders in Wilna bleibt es nicht verwunderlich, dass die neue Gesellschaft nach dem Weltkrieg militärisch zu schwach war, um das gesamte von ihr reklamierte Gebiet für sich zu gewinnen. Hier und an anderer Stelle hätte vielleicht noch stärker gezeigt werden können, wie in der Vielvölkerstadt Wilna sich wechselseitig ausschließende nationale Konzeptionen entstanden, von denen die litauische Ausrichtung nur eine der schwächeren war. Anlässlich der Volkszählung von 1897 gaben nur 2,1 Prozent der Bevölkerung der Stadt an, litauischer Nationalität zu sein.

Ein wesentliches Verdienst der Studie ist allerdings die Betonung von unvorhersehbaren Entwicklungen, Konflikten und Brüchen bei der Entstehung eines nationalen Bewusstseins und die Abkehr von der teleologischen Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung des „nation-making“.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Tomas Balkelis The Making of Modern Lithuania. Routledge London New York 2009. XXVII. = Basees/Routledge series on Russian and East European studies, 56. ISBN: 978-0-415-45470-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Rohdewald_Balkelis_Making_of_Modern_Lithuania.html (Datum des Seitenbesuchs)

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