Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörg Roesler

 

Felix Jaitner: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin. Hamburg: VSA, 2014. 174 S. = ISBN: 978-3-89965-622-0.

Nach dem Scheitern von Gorbačevs Reformen und dem Ende der Sowjetunion zu Beginn der 90er Jahre hatte das Interesse an der aus der Union hervorgegangenen Russischen Föderation rasch nachgelassen. Mit der Übernahme von Demokratie und Marktwirtschaft schien sie transformatorisch auf dem rechten Weg.

Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine, die Besetzung der Krim, nicht zuletzt die vom Westen verhängten Wirtschaftssanktionen haben die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder stärker auf Russland, auch auf die Funktionsweise seiner Ökonomie gerichtet. Da kommt das Buch des an der Universität Wien lehrenden Politikwissenschaftlers gerade recht. Seine Beschreibung der politischen und ökonomischen Entwicklung der Sowjetunion und ihres Nachfolgestaates umfasst den Zeitraum von Anfang der 80er Jahre bis  zu Machtübernahme durch Putin.

Im ersten Kapitel skizziert Jaitner kurz die sich seit den 70er Jahren herausbildende Krise in der Sowjetunion, in der Brežnev-Ära allgemein als Stagnationsperiode empfunden, die Mitte der 80er Jahre ihren Höhepunkte erreichte und für deren Bekämpfung Gorbačev ein Mandat erhielt. Jaitner sieht sie als Krise der Sowjetgesellschaft, d. h. als sowohl politische wie auch wirtschaftliche und ökologische Krise. Bald war das gesamte Sowjetsystem in Frage gestellt.

Im zweiten Kapitel wird von Jaitner die Wahrnehmung der Krise aus der Sicht dreier unterschiedlicher gesellschaftlicher Akteure, der Unterstützer von  Gorbačev  Perestroika,  von Boris Jelzin und seinen Anhänger in der Kommunistischen Partei sowie der liberalen Dissidentenbewegung dargestellt. Die im Rahmen der Perestroika unternommenen Wirtschaftsreformen steuerten ziemlich rasch auf die Umwandlung der sowjetischen Planwirtschaft in eine Marktwirtschaft zu.

In Kapitel 3 werden die politischen Aktivitäten analysiert, die – zeitlich teilweise parallel – zur Auflösung der Sowjetunion führten. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit Jaitners steht der im August 1991 gescheiterte Putsch derjenigen politischen Kräfte, vor allem im Militär, die die Sowjetunion erhalten wollten.

Mit der Ende 1991 beginnenden Jelzin-Ära, deren Analyse im Mittelpunkt von Jaitners Buch steht, beginnt die Einführung des Kapitalismus in Russland auf dem Wege einer „Schocktherapie“. Kapitel 4 beschreibt sie und ihre sozialen Wirkungen während der Jahre 1992–1994 unter den Stichworten Liberalisierung, Stabilisierung und Privatisierung. Im Ergebnis der durch die Schocktherapie bewirkten ökonomischen Strukturbrüche bildete sich in Russland ein neues Wirtschaftsmodell heraus, das Jaitner als ressourcen­extraktivistisches Exportmodell bezeichnet und das Russland noch stärker von Öl- und Gasexporten abhängig machte, als es die Sowjetunion schon gewesen war. Auf die  großen Wirtschaftsunternehmen gewinnt im Laufe der Privatisierung eine neu entstandene russische Unternehmerschicht, gewinnen die Oligarchen zunehmend an Einfluss.

Im fünften Kapitel wird beschrieben, wie sich angesichts der entstehenden reichen Oberschicht und des durch die Schocktherapie heraufbeschworenen sozialen Elends der Masse der Bevölkerung in der Duma, Russlands Parlament, bereits seit Anfang 1992 die liberale Opposition gegen Jelzins „Reformpolitik“ sammelte. Der Konflikt zwischen Jelzin und dem Parlament eskalierte im September/Oktober 1993. Jelzin scheute sich nicht, die Armee gegen das Parlament einzusetzen und war danach in der Lage, einen „neuen Autoritarismus“ in Russland zu installieren.

Kapitel 6 beschreibt, wie die Gewalt in den Jahren 1994 bis 1996 weiter eskalierte. Ihre Rechtfertigung fand die Anwendung der Gewalt in der propagierten Notwendigkeit der Bekämpfung der sich im post-sowjetischen Raum in jenen Jahren rasch ausbreitenden ethnischen Konflikte, von denen eigentlich nur der Krieg in Tschetschenien auch außerhalb Russlands im Gedächtnis geblieben ist.

Zwischen 1994 und 1996 verschuldete sich Russland gegenüber dem Ausland rasch, was den Internationalen Währungsfonds auf den Plan rief, der zur Erhaltung der Kreditwürdigkeit von der russischen Regierung eine strenge Sparpolitik und weitere Privatisierungen verlangte. Die Privatisierung betraf dieses Mal im besonderen Maße die Zweige der Energie- und Grundstoffindustrie, die während der ersten Privatisierungswelle noch überwiegend im Staatseigentum verblieben waren. Die zweite Privatisierungswelle (1995–1997) wird in Kapital 7 beschrieben. Erst sie machte die Herausbildung monopolistischer Wirtschaftskonglomerate, die von Oligarchen beherrscht wurden, vollständig.  Ihre Eigentümer bildeten von nun ab „die neue herrschende Klasse Russlands“.

 Im Kapitel 8 beschreibt Jaitner, wie die Oligarchen sich in Verfolgung ihrer Interessen immer unmittelbarer in die Politik einzumischen begannen. Sie beschränkten sich nicht mehr auf eine indirekte Herrschaftsausübung, indem sie ihre engen persönlichen Verbindungen nutzten, sondern besetzten selber politische Schlüsselpositionen. Die Spekulation mit Staatsanleihen erwies sich für sie als außerordentlich lukrativ.

Die Konsolidierung der unbeschränkten Macht der Oligarchen fand durch die Finanzkrise von 1998 ein Ende (Kapitel 9). Das resssourcenextraktive Exportmodell hatte sich als anfällig gegenüber weltwirtschaftlichen Turbulenzen wie die Asienkrise erwiesen. Im August 1998 war der russische Staat pleite. Das führte zu großen Kursverlusten an den Börsen, die auch die Oligarchen schwer trafen und ihre Position insgesamt schwächten. Die Krise leitete eine Renaissance des Staates als Akteur ein, der nun wieder eine aktivere Rolle in der Organisation und Regulierung der Wirtschaft übernahm und Staatsunternehmen wie die Konzerne Gazprom und Rosneft unter seine feste Kontrolle brachte. In Kapitel 10 beschreibt Jaitner, wie ein neuer Gesellschaftsvertrag Oligarchen und Administration zu einem „staatlich regulierten Korporatismus“ zusammenführte. Auf dieser Grundlage begann 1999 die Ära Putin.

Allein schon die chronologisch geordnete Wiedergabe der Entwicklung Russlands über 30 Jahre auf politischem und ökonomischen Gebiet schließt viele Wissenslücken. Dem Autor ist es an vielen Stellen ausgezeichnet gelungen, die engen Zusammenhänge zwischen politischen und ökonomischen Interessenlagen, wirtschaftlichen Entwicklungen und politischen Aktionen darzustellen. Den Zerfall der Sowjetunion betrachtet er nicht als Kollateralschaden. Er hat sich für Jaitner vielmehr zwangsläufig aus Jelzins Bestreben, den Kapitalismus via Schocktherapie so rasch wie möglich einzuführen, ergeben. Und nur deren brutale Durchsetzung sichert ihm seine Macht. Der Leser kann nachvollziehen, wie und warum sich wenige Jahre nach dem demokratischen Aufbruch der Perestroika in Russland autoritäre Herrschaftsstrukturen wieder herausbilden und festigen konnten. Jaitner ist in der Lage überzeugend darstellen, dass auf Gorbačev, Jelzin oder Putin reduzierte Erklärungsansätze für die jüngste russische Geschichte nicht ausreichen, dass es grundsätzliche Entwicklungslinien gab, die zur Herausbildung eines ressourcenextraktiven Kapitalismus führten und zum Entstehen einer neuen Kapitalistenklasse. Deutlich wird in Jaitners aufschlussreichem Buch, dass die drei Politiker eher ein Produkt ihrer Zeit, von deren Spannungen und Widersprüchen waren, als dass sie die Abfolge der Entwicklung entsprechend ihren Vorstellungen  hätten bestimmen können. Insofern – und das ist wirklich die einzige Kritik – ist der Untertitel dieser Publikation etwas irreführend.

Jörg Roesler, Berlin

Zitierweise: Jörg Roesler über: Felix Jaitner: Einführung des Kapitalismus in Russland. Von Gorbatschow zu Putin. Hamburg: VSA, 2014. 174 S. = ISBN: 978-3-89965-622-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Roesler_Jaitner_Kapitalismus_in_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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