Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Isabel Röskau-Rydel

 

Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band IX: Soziale Strukturen. 1. Teilband: Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Teilband 1/1: Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution. Teilband 1/2: Von der Stände- zur Klassengesellschaft. Hrsg. von Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch. Redaktion Ulrike Harmat. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2010. Teilband 1/1: XIV, 781 S., Tab., Graph.; Teilband 1/2: XII, 1039 S., Tab. ISBN: 978-3-7001-6892-8.

In dem aus zwei Teilbänden (sowie einem Karten- und Statistikband, IX/2, der der Rezensentin jedoch nicht vorlag) bestehenden IX. Band „Soziale Strukturen“ der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch herausgegebenen monumentalen Reihe „Die Habsburgermonarchie“ zeichnen die knapp vierzig, hauptsächlich österreichischen, ungarischen und tschechischen Autoren die ganz unterschiedlichen Lebens- und Arbeitswelten in den einzelnen Ländern der Habsburgermonarchie in der Zeit von 1848 bis 1918 nach. Dass es sich bei diesem Themenbereich um eine äußerst schwierige Aufgabe für die Autoren gehandelt hat, hebt schon der Herausgeber Helmut Rumpler in seinem Vorwort hervor, der diesen Band als „bisher schwierigstes Projekt“ (S. XIII) der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie (1848–1918) bezeichnet. Die ganz unterschiedliche Entwicklung der gesellschaftlichen Welten in den beiden österreichischen Reichshälften habe die Kommission dazu bewegt, die ungarische Reichshälfte gesondert von Cisleithanien darzustellen und darüber hinaus nur von ungarischen Autoren bearbeiten zu lassen. Auf eine gesonderte Behandlung der Nationalgesellschaften in Cisleithanien habe man dagegen verzichtet, da „urbane, ländliche oder kulturell-konfessionelle Lebenswelten […] sich als stärkere Strukturierungselemente“ erwiesen hätten. Auch in seinem Einleitungsbeitrag „Das Problem der ‚sozialen und personalen Integration in heterogenen Gesellschaften‘“ weist Helmut Rumpler auf die langjährige Skepsis der Wissenschaftler aus den ehemaligen Ländern der Habsburgermonarchie hin, eine Sozialgeschichte der Habsburgermonarchie schreiben zu können. Diesen methodischen Pessimismus habe die Kommission aber nicht geteilt und daher versucht, dem Band eine „wertneutrale Systematisierung“ zugrunde zu legen. Dies kommt auch in dem Titel des IX. Bandes zum Ausdruck, bei dem man bewusst „Soziale Strukturen“ und nicht den Begriff „Sozialgeschichte“ verwendet hat.

Von diesem Ansatz ausgehend widmet sich der IX. Band allgemein dem Wandel „von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft“ in der Zeit von 1850 bis  1914, und zwar im Teilband 1/1 den „Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution“ und im Teilband 1/2 dem Wandel „von der Stände- zur Klassengesellschaft“. Von den sozioökonomischen Veränderungen in jener Zeit waren alle sozialen Schichten der Habsburgermonarchie, unabhängig von ihrer nationalen oder konfessionellen Zugehörigkeit, betroffen. Der grenz- und nationenüberschreitende Wandel des Arbeitsmarktes vollzog sich jedoch in den einzelnen Ländern und Regionen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Dieser Wandel wird in den beiden Bänden in einem breitgefächerten Themenkatalog dargestellt.

Teilband 1/1 gliedert sich in zwei Kapitel mit den Titeln „Die Wende zur Industrie- und Wissensgesellschaft“ sowie „Lebens- und Arbeitswelten“. Im ersten Kapitel befasst sich Hans Peter Hye mit den technologischen Neuerungen und Erfindungen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. In ihrem Beitrag über die „Bildungsrevolution“ widmen sich gleich drei Autorinnen – Margret Friedrich, Brigitte Mazohl und Astrid von Schlachta –, den Folgen der Schulreform in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowie der unter dem Minister für Kultus und Unterricht, Leopold Graf von Thun-Hohenstein, durchgeführten umfassenden Hochschulreform. Weitere Beiträge befassen sich mit dem modernen Kommunikations- und Medienwesen (Mirko Herzog und Wolfgang Pensold), mit der Bevölkerungsentwicklung 1850–1910 (Heinz Fassmann), mit der Urbanisierung (Renate Banik-Schweitzer) sowie mit den „politischen  und rechtlichen Voraussetzungen der sozialen Entwicklung“ (Brigitte Mazohl). Im zweiten Kapitel widmen sich Ernst Bruckmüller, Gerhard Meißl, János Szulovszky sowie Peter Eigner den Arbeitswelten in Cis- und Transleithanien, Wolfgang Maderthaner und Gábor Gyáni den urbanen Lebenswelten,  Hannes Stekl den „Klein- und mittelstädtischen Lebenswelten“ sowie Hans Heiss dem „ländlichen und städtischen Familienleben“. Waltraud Heindl befasst sich in ihrem Beitrag mit dem Wandel der „Geschlechterbilder und Geschlechterrollen“ und untersucht hier, inwieweit die Geschlechterdebatten Einfluss auf die soziale Realität hatten. Über die konfessionellen Milieus schreibt Rupert Klieber, der nach der Identitäten stiftenden Wirkung der Konfessionen fragt.

Im Teilband 1/2 geht es mit dem dritten Kapitel weiter, das sich den Veränderungen in den Ständen widmet. Mit dem Bauernstand befasst sich Ernst Bruckmüller, mit der Arbeiterklasse Jiři Kořalka, mit dem Bürgertum in Cisleithanien Oliver Kühschelm, mit dem „Besitz- und Bildungsbürgertum in Ungarn“ Károly Halmos, mit dem erbländischen Adel Hannes Stekl, mit dem galizischen Adel Miloš Řezník und mit den Magnaten und der Gentry in Ungarn Ulrike Harmat. Das vierte Kapitel ist den „sozialen Gruppen jenseits der Klassen“ gewidmet. Dort befasst sich Victor Karády mit der Intelligenz in Ungarn, Helmut Rumpler allgemein mit den Intellektuellen in Cisleithanien, Waltraud Heindl mit dem Beamtentum in Cisleithanien, Gábor Benedek entsprechend mit dem Beamtentum in Ungarn. Waltraud Heindl bezieht sich in ihrem Beitrag allgemein auf die Beamtenschaft in der Habsburgermonarchie, die sie als eigenen „Mikrokosmos“ innerhalb der Gesellschaft bezeichnet. Sie hebt hervor, dass es schwierig sei, die tatsächliche Anzahl der Beamten festzustellen, da die zeitgenössischen Angaben stark variieren. Es ist erstaunlich, dass es nach wie vor so wenige neuere Untersuchungen über diese in allen Kronländern gleichermaßen präsente soziale Gruppe der Habsburgermonarchie gibt – abgesehen von den verdienstvollen Studien über die österreichischen Beamten von Waltraud Heindl selbst sowie die einige Jahre ältere von Karl Megner. Waltraud Heindl hebt in ihrem Beitrag das besondere Verhältnis der Beamten zum Kaiser hervor, der unabhängig von ihrer nationalen Identität, Gehorsam und Loyalität von ihnen erwartete. Die Beamten konnten sich zwar eines in allen Kronländern gültigen Besoldungssystems erfreuen, allerdings entsprachen dessen Gehälter nicht immer den örtlichen Realitäten. Die fehlende finanzielle Anpassung der Gehälter führte gerade in den unteren Beamtengruppen zu einer Verarmung, so dass der Beruf an Ansehen und Attraktion für den Nachwuchs verlor. Erst 1873 wurde ein neues Beamtengehaltsgesetz verabschiedet, das dieser dramatischen Verschlechterung der sozialen Lage der unteren Gruppe der Beamtenschaft entgegenwirkte. Auch der Beitrag von William D. Godsey weist schon in seinem mit beredten Klammern versehenen Titel „Der österreichisch(e) (‑ungarische) Diplomatische Dienst zwischen Stände- und Nationalgesellschaften“ auf das übernationale Potential dieser sozialen Gruppe hin. Eine ebenso übernationale soziale Gruppe bildete bekanntlich das k. und k. Militär, dem sich Peter Melichar und Alex­ander Mejstrik widmen. Ähnlich wie die Beamtenschaft zählte auch das Militär zu derjenigen sozialen Gruppe, die in allen Kronländern vorhanden und multinational geprägt war. Allerdings blieben hier die Führungspositionen mit fast 80 Prozent den deutschen Offizieren (1910) vorbehalten, so dass sich gerade im Militär ganz deutlich das soziale Gefälle zwischen den Nationalitäten widerspiegelt. Hinzu kam, dass das Militär, ähnlich wie der Diplomatische Dienst, eine traditionelle Domäne der Adelsfamilien war und dementsprechend adelige Offiziere bevorzugt Führungspositionen erhielten. Mit einer ganz spezifischen Gruppe, nämlich der Hofgesellschaft, befasst sich in diesem Kapitel Karin Schneider. Das fünfte Kapitel ist dem „sozialen Wandel als gesellschaftspolitische Herausforderung“ gewidmet. Hier befasst sich Reinhard Farkas mit der sozialen Reichweite der Lebensreform und Modernisierung, Marsha L. Rozenblit mit den „sozialen Grundlagen des Antisemitismus in der Habsburgermonarchie 1848–1918“ und Werner Drobesch mit den „Ideologischen Konzepten zur Lösung der ‚sozialen Frage‘“. Susan Zimmermann stellt einen Vergleich der Armen- und Sozialpolitik in Ungarn mit Österreich an und Ender Kiss untersucht das zivilisatorische Bewusstsein vor dem Hintergrund des sozialen Wandels im Kontext der habsburgisch-mitteleuropäischen Zivilisation. Der Band endet mit dem siebten Kapitel über die statistischen Grundlagen, das nur aus einem Beitrag besteht, und zwar von Michael Pammer, der „die Sozialstrukturen im Spiegel der Sozialstatistik“ untersucht.

Ein 162 Seiten umfassendes Verzeichnis der in den Beiträgen verwendeten gedruckten Quellen und Literatur ermöglichen dem Leser darüber hinaus, sich – unabhängig von den einzelnen Beiträgen –, mit der Literatur über die sozialen Strukturen in der Habsburgermonarchie vertraut zu machen. Dank dem umfangreichen Personen- und Sachregister kann ein schneller Rückgriff auf einzelne Personen, Regionen, Städte oder Themenbereiche stattfinden. Mit diesen beiden Bänden ist es der Kommission für die Geschichte der Habsburgermonarchie erneut auf hervorragende Weise gelungen, einen breitgefächerten Doppelband herauszugeben und dem Leser einen tiefen Einblick in den sozioökonomischen Wandel in der Habsburgermonarchie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu gewähren.

Isabel Röskau-Rydel, Kraków

Zitierweise: Isabel Röskau-Rydel über: Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Band IX: Soziale Strukturen. 1. Teilband: Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Teilband 1/1: Lebens- und Arbeitswelten in der industriellen Revolution. Teilband 1/2: Von der Stände- zur Klassengesellschaft. Hrsg. von Helmut Rumpler und Peter Urbanitsch. Redaktion Ulrike Harmat. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2010. Teilband 1/1: XIV, 781 S., Tab., Graph.; Teilband 1/2: XII, 1039 S., Tab. ISBN: 978-3-7001-6892-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Roeskau-Rydel_Rumpler_Habsburgermonarchie_Bd_ IX_Soziale_Strukturen_Teilbd_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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