Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Isabel Röskau-Rydel

 

Anna Kochanowska-Nieborak: Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des „langen“ 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main [usw.]: Lang, 2010. 315 S., 10 Abb. = Posener Beiträge zur Germanistik, 24. ISBN: 978-3-631-59791-0.

Das vorliegende Buch basiert auf der 2005 an der Adam-Mickiewicz-Universität in Posen verteidigten Dissertation der Verfasserin, die in einer leicht überarbeiteten Form herausgegeben wurde. Die Autorin setzt sich zum Ziel, das in sieben Auflagen von Meyers Konversations-Lexikon vermittelte Bild Polens im 19. Jahrhundert zu analysieren und herauszufinden, welchen Einfluss das auflagenstarke Lexikon auf den zeitgenössischen Leser hatte und inwiefern sich die Darstellung Polens und der Polen in den verschiedenen Auflagen änderte. Ihre in zwei gleichgroße Teile gegliederte Arbeit befasst sich im ersten Teil (S. 15–136) mit den für diese Studie relevanten theoretischen Grundlagen und untersucht dann im zweiten Teil (S. 137–256) das Polenbild („Das Bild Polens als Staat“, „Das Bild Polens als Nation“, „Das Bild der polnischen Kultur“) an ausgewählten Lexikonartikeln. Im ersten Kapitel gibt die Verfasserin zunächst einen anschaulichen Überblick über die recht umfangreiche Forschung deutscher und polnischer Wissenschaftler nach 1945 über das Polenbild in der deutschen Literatur, wobei sie die vor 1945 entstandenen Arbeiten zu diesem Thema ebenfalls berücksichtigt. In diesem Überblick hebt sie insbesondere die grundlegenden Untersuchungen von Hubert Orłowski in seiner 1996 erschienenen Monographie „‚Polnische Wirtschaft‘. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit“ sowie die im Jahre 2000 herausgegebene Studie von Stephan Scholz „Die Entwicklung des Polenbildes in deutschen Konversationslexika zwischen 1795 und 1945“ hervor, die durch die Berücksichtigung von Lexika neue Quellen zur Erforschung des deutschen Polenbildes erschlossen haben. In ihrem zweiten Kapitel befasst sich die Verfasserin mit den methodischen Grundlagen für ihre Analyse, der sie durch die Anwendung nicht nur literaturwissenschaftlicher Methoden wie der Imagologie, sondern auch der historischen Stereotypenforschung, der Diskursanalyse sowie der historischen Semantik eine interdisziplinäre Richtung gibt. Daran schließt im dritten Kapitel ein knapper Überblick über die polnische und deutsche Geschichte als Hintergrund für die Analyse an. Einen breiteren Raum gibt die Verfasserin im vierten Kapitel der Untersuchung der Quellengattung „Konversationslexikon“ und geht hier allgemein auf die Entwicklungsgeschichte und die Leserschaft der Konversationslexika ein, bevor sie dann im fünften Kapitel die Entstehung von Meyers Konversationslexikon und eingehender auch die Autoren der zu den polnischen Themen verfassten Beiträge behandelt. Bei den 1876 durch die Redaktion von Meyers Konversationslexikon als Mitarbeiter für die völlig neu bearbeitete dritte Auflage gewonnenen fünf Autoren handelte es sich um den damals sowohl in Deutschland als auch in Polen angesehenen Historiker an der Breslauer Universität Professor Jacob Caro, der als Sohn eines Rabbiners in Gnesen geboren wurde, um zwei Professoren der Lemberger Universität ruthenischer (ukrainischer) Herkunft – Emilian Ogonowski und Izydor Szaraniewicz , um einen Publizisten und Literaten aus dem Posener Gebiet – Eugeniusz Puffke (Pseudonym Eugen Lipnicki) , bei denen die Verfasserin jeweils nähere Angaben zu ihren Biographien macht. Aufgrund der während der deutschen Besatzung zerstörten Archivquellen in Warschau gelang es der Verfasserin nicht, Näheres über den im Mitarbeiterverzeichnis als Dr. Zielke erwähnten und damals in Warschau lebenden Autoren zu erfahren. Da auch das Archiv des Bibliographischen Instituts, das sich heute im Staatsarchiv Leipzig befindet, im Zweiten Weltkrieg zum Teil zerstört wurde, konnte die Verfasserin hier Hinweise nur auf die fünf Autoren der dritten Ausgaben finden, bei denen auch die allgemeinen Themenbereiche angegeben wurden (S. 121). Die beiden anderen Autoren Ogonowski und Szaraniewicz sowie C. Zielke werden nur bei den biographischen Angaben S. 120–124 bzw. S. 120–126 und zuletzt auf S. 134 erwähnt. Die Verfasserin betont, dass sich nicht alle Artikel mit Polenbezug den einzelnen Autoren zuordnen lassen, da sie nicht immer entsprechend namentlich gekennzeichnet sind. Ihr Interesse gilt insbesondere Jacob Caro, den sie als „Verfasser des Teiles ‚Geschichte‘ im Rahmen des Artikels Polen“ bezeichnet (S. 127), obwohl sie noch wenige Zeilen zuvor betont, dass „gerade der Verfasser des Schlüsselartikels Polen ein Unbekannter bleiben muss“.  Sie vertritt erstaunlicherweise die These, dass sich Caro „erst ziemlich spät“ (S. 128) und „wahrscheinlich nicht freiwillig der Erforschung der polnischen Geschichte widmete“ und dass dieser Umstand sowie fehlende Polnischkenntnisse seine „Geschichtsschreibung wesentlich beeinflusst haben“ könnte (S. 129). Ob man tatsächlich bei einer Person von einer ziemlich späten Beschäftigung mit der polnischen Geschichte sprechen kann, wenn diese mit 24 Jahren eine Doktorarbeit „Über die Wahl Sigismunds III. von Polen“ an der Universität Leipzig einreicht, die 1861 unter verändertem Titel im Druck erschien? Bei ihren Einschätzungen stützt sich die Autorin insbesondere auf den Beitrag Alexander Kraushars über Jacob Caro, ohne diesen Beitrag mit der notwendigen Distanz zu betrachten. Dass das Bild Polens in dem historischen Teil ihrer Meinung nach so negativ ausgefallen ist, schreibt sie dem Umstand zu, dass Caro seine Professur an der Universität Breslau Otto von Bismarck zu verdanken gehabt habe. Bei dieser Einschätzung beruft sich die Autorin auf Ryszard Ergetowski, der Caros zwischen 1862 und 1902 an polnische Gelehrte gerichtete Briefe im Jahre 2005 in Warschau herausgegeben hat, wobei diese Edition notabene nicht in der Bibliographie verzeichnet ist. Ergetowski, der im Übrigen ein außerordentlich positives Bild von Jacob Caro als Polenforscher in seiner Einleitung zu dessen Briefen vermittelt, verweist hier auf die Angaben Felix Rachfahls, eines Schülers von Caro. Für den Leser wäre es sicherlich hilfreich gewesen, wenn die von der Verfasserin im Einzelnen behandelten Artikel, insbesondere der in der dritten Auflage erschienene Artikel „Polen – Geschichte“ von Meyers Konversationslexikon, aber zum Vergleich auch die entsprechenden Artikel in den von ihr herangezogenen früheren und späteren Ausgaben, die sich ja schon im Seitenumfang erheblich unterscheiden, im Anhang abgedruckt worden wären, da es aufgrund der zahlreichen Verweise auf die verschiedenen Auflagen des Konversationslexikons und wegen Exkursen nicht immer leicht ist, den Ausführungen der Verfasserin zu folgen. Dies würde dem Leser erlauben, sich den gesamten Artikel anzuschauen und nicht nur Ausschnitte davon zu erhalten. Ob man angesichts des aus sehr unterschiedlichen Lebenswelten stammenden Autorenkreises von einem eindeutig deutschen Polenbild bzw. Polendiskurs sprechen kann, die in Meyers Konversationslexikon vermittelt worden seien, ist recht fraglich. Auf diese Ungereimtheit weist die Autorin am Beispiel Eugeniusz Puffkes, dem die Redaktion der Beiträge zur „Polnischen Literatur“ und allgemein zur „Slawischen Literatur“ anvertraut wurde, erst auf S. 261 in einer Fußnote hin.

Insgesamt gesehen ist es der Verfasserin gelungen, am Beispiel ausgewählter Artikel den unterschiedlichen Blick der Autoren auf die Geschichte und Kultur Polens im Laufe des 19. Jahrhunderts  herauszuarbeiten und somit weiteren Studien zur Mentalitätsgeschichte und Stereotypenforschung Anregungen zu geben.

Isabel Röskau-Rydel, Kraków

Zitierweise: Isabel Röskau-Rydel über: Anna Kochanowska-Nieborak: Das Polenbild in Meyers Konversationslexika des „langen“ 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main [usw.]: Lang, 2010. 315 S., 10 Abb. = Posener Beiträge zur Germanistik, 24. ISBN: 978-3-631-59791-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Roeskau-Rydel_Kochanowska-Nieborak_Polenbild_in_Meyers_Konversationslexika.html (Datum des Seitenbesuchs)

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