Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Isabel Röskau-Rydel

 

Ines Hopfer: Geraubte Identität. Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2010. 304 S., 17 Abb. ISBN: 978-3-205-78462-3.

Die Autorin widmet sich in ihrem Buch der von nur wenigen polnischen und deutschen Wissenschaftlern und Publizisten bearbeiteten Problematik der gewaltsamen Trennung der von den Nationalsozialisten als „eindeutschungsfähig“ erklärten polnischen Kinder von ihren Eltern im deutsch besetzten Polen. Ihr Hauptaugenmerk liegt dabei auf dem Schicksal der polnischen Kinder, die in das vom Dritten Reich annektierte Österreich, die sog. Ostmark, verschleppt wurden.

Im ersten Kapitel gibt die Autorin einen Überblick über die für die „Eindeutschung“ polnischer Kinder zuständigen NS-Behörden sowie deren Zuständigkeitsbereiche und geht auch auf die begriffliche Einordnung des Wortes und der damit verbundenen Ideologie ein. Im Anschluss an den Überblick befasst sich die Autorin detailliert mit der „Eindeutschungsaktion“ im Raum Litzmannstadt, wie die Stadt Łódź von den Nationalsozialisten seit 1940 genannt wurde.

Im zweiten Kapitel lässt die Autorin die verschleppten Kinder selbst zu Wort kommen und stützt sich dabei auf die eigene Befragung von „eingedeutschten“ Kindern, mit denen sie im schriftlichen oder persönlichen Kontakt stand. Unterstützung bei der Auffindung von betroffenen Personen erhielt sie von dem Verein „Zrzeszenie Dzieci Polskich Germanizowanych przez reżim Hitlerowski“. Gerade am Beispiel der befragten Personen wird das Trauma, welches die gewaltsame Trennung für die betroffenen Kinder und deren Eltern bedeutete, ganz besonders deutlich. Die den Eltern entrissenen Kinder wurden zunächst in ein Kinderheim bzw. ein sog. Übergangsheim gebracht, von wo aus sie in „Assimilierungsheime“ verlegt wurden, in denen sie die deutsche Sprache erlernen und in der NS-Ideologie „geschult“ werden sollten. Den Erinnerungen der von Ines Hopfer befragten Personen zufolge war der Aufenthalt in den Assimilierungsheimen besonders schwer zu ertragen, da sie häufig bei den geringsten Verständnisschwierigkeiten bestraft und geschlagen wurden. Nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in diesen Heimen wurden die traumatisierten Kinder in Deutsche Heimschulen in das sog. Altreich verlegt, wo es ihnen auch nicht besser als in den vorangegangenen Heimen erging. Die Autorin weist in ihrer Untersuchung darauf hin, dass manche Kinder trotz der Gewaltandrohungen und trotz der ständigen Schikanen seitens des Heimpersonals dennoch an ihrer polnischen Identität festhielten und trotz strengen Verbotes versuchten, insgeheim brieflichen Kontakt mit ihren Eltern in Polen aufzunehmen, wofür sie streng bestraft wurden.

Im dritten Kapitel befasst sich die Autorin mit der „Eindeutschungsaktion“ der Kinder in der sog. Ostmark. Die von ihr befragten Personen wurden 1943 in das Umsiedlerlager Parsch oder in das Kinderheim Alpenland im Raum Salzburg verlegt, von wo aus sie an Pflegefamilien vermittelt werden sollten. Auch hier lässt die Autorin wieder die betroffenen Personen zu Wort kommen. In den Pflegefamilien machten die Kinder erneut unterschiedliche Erfahrungen und wurden besser oder schlechter behandelt. Manche Pflegeeltern waren sich der Verschleppung der Kinder aus Polen bewusst, hatten Mitleid mit ihnen und bemühten sich, Vertrauen zu ihnen aufzubauen; andere wiederum, insbesondere die Bauern, sahen die Kinder aus Polen als billige Arbeitskräfte an, die wie die auf den Höfen lebenden Zwangsarbeiter behandelt wurden. Aus den Befragungen der Autorin geht hervor, dass die Kinder, insbesondere die älteren Kinder, stets an ihrer polnischen Identität festgehalten hätten, trotz der Misshandlungen, die ihnen seitens des Heimpersonals oder der Pflegefamilien drohten.

Im vierten Kapitel beschreibt die Autorin den Umgang der Leitung des Kinderheims „Alpenland“ in Oberweis bei Gmunden mit den polnischen Zöglingen. Auch hier erging es den Kindern ähnlich wie in Parsch, wobei die schlechten Erinnerungen überwiegen. Die Autorin hat in diesem Kapitel auch die nach dem Krieg abgegebenen eidesstattlichen Erklärungen des Heimpersonals und der leitenden Angestellten aus den NS-Behörden herangezogen. Nicht verwunderlich ist es, dass die Aussagen ganz anders ausfielen als die Aussagen der verschleppten Kinder über ihren Heimaufenthalt, da das vor Gericht stehende Heimpersonal natürlich ganz besonders daran interessiert war, die Umstände im Heim zu beschönigen und alles in einem günstigeren Licht erscheinen zu lassen.

Im fünften Kapitel berichtet die Verfasserin über den Verlauf der Repatriierung der verschleppten polnischen Kinder nach Polen nach Kriegsende durch die nationalen und internationalen Hilfsorganisationen. Sie betont, dass es in Österreich aufgrund der Tatsache, dass hier ältere Kinder hingeschickt wurden, die sich an ihre Herkunft erinnern konnten, einfacher als in Deutschland war, die verschleppten Kinder in Suchaktionen wiederzufinden, zumal sie meist auch nicht den Namen der Pflegeeltern erhalten hatten. Zu Recht betont sie, dass bei dieser Rückführungsaktion nicht auf die Bedürfnisse der Kinder eingegangen wurde, die sich zum Teil in den Pflegefamilien eingelebt hatten, sondern dass diese, ohne Unterschiede zu machen, aus ihren Pflegefamilien genommen wurden und nun ein weiteres Mal den Verlust von Bezugspersonen erfahren mussten. Nur wenige Kinder konnten in ihren Pflegefamilien bleiben. Für die meisten Kinder bedeutete diese Aktion jedoch die Befreiung aus ihrem Zwangsaufenthalt in Österreich, auch wenn sie zunächst wieder in einem Lager gesammelt wurden. Die Ankunft in Polen verlief dann den Erinnerungen der Betroffenen zufolge für viele der Kinder erneut traumatisch, da ihre Eltern im Krieg ums Leben gekommen waren und sich keine Verwandten fanden, die sie aufnehmen konnten, so dass viele Kinder wieder ins Heim gehen mussten.

Ines Hopfer hat sich in ihrer Studie zum überwiegenden Teil auf Quellenmaterialien gestützt, die sie im österreichischen Staatsarchiv in Wien sowie in den Landesarchiven und Gemeindearchiven in Österreich eingesehen hat. Darüber hinaus hat sie die entsprechenden Bestände des Bundesarchivs Berlin-Lichterfelde, des Instituts für Zeitgeschichte in München sowie des Zentrums für Antisemitismusforschung in Berlin ausgewertet, wo sie in den Dokumentenbüchern der Anklage und der Verteidigung die Aussagen der für die Verschleppung der polnischen Kinder verantwortlichen Personen während des achten Nürnberger Nachfolgeprozesses einsehen konnte. Gleichfalls hat sie für ihre Studie Dokumente des Instituts des Nationalen Gedenkens in Warschau (Instytut Pamięci Narodowej w Warszawie) sowie im Staatsarchiv Lodz (Archiwum Państwowe w Łodzi) für ihre Arbeit herangezogen. Ihr besonderer Verdienst ist es, ehemalige verschleppte Kinder als Zeitzeugen gefunden und nach ihren Erfahrungen mündlich oder schriftlich befragt zu haben. Auf diese Weise hat sie den betroffenen Personen eine Stimme gegeben und so auf das Schicksal der nach Österreich verschleppten Kinder aufmerksam gemacht. Dadurch hat sie nicht nur eine Forschungslücke schließen können, sondern auch einen großen Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung in Österreich geleistet.

Isabel Röskau-Rydel, Krakau

Zitierweise: Isabel Röskau-Rydel über: Ines Hopfer: Geraubte Identität. Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2010. 304 S., 17 Abb. ISBN: 978-3-205-78462-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Roeskau-Rydel_Hopfer_Geraubte_Identitaet.html (Datum des Seitenbesuchs)

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