Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Isabel Röskau-Rydel

 

Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844. Münster: LIT, 2015. 362 S., 12 Abb., 16 Ktn., 34 Tab. = Europa Orientalis, 16. ISBN: 978-3-643-50669-6.

Der Verfasser widmet sich in seiner Studie den Herrschaftswechseln, an die sich von der Ersten Teilung Polens bis Mitte des 19. Jahrhunderts die an der Weichsel gelegene südostpolnischen Stadt Sandomierz anpassen musste. Bevor sie zu einer Stadt an der Peripherie degradiert wurde, nahm sie durch ihre Lage im Zentrum Polens eine bedeutende Stellung ein. Im Mittelpunkt der Studie steht die Frage, welche Auswirkungen die bei den verschiedenen politischen Zäsuren neu gezogenen Grenzen auf das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben der Stadt und damit auf den Alltag der Stadtbevölkerung hatten. Im Untersuchungszeitraum zählte diese „Stadt mittlerer Größe“ (S. 80) gerade einmal zwischen 2.060 (1777) und 3.500 (1848) Einwohner. Der jüdische Anteil an der Stadtbevölkerung machte in jener Zeit etwa 20 Prozent, 1853 dann schon 29 Prozent, aus. 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung war Ende des 18. Jahrhunderts in Handwerksberufen tätig.

Christoph Augustynowicz stützt sich in seiner Studie sowohl auf die methodischen Instrumentarien der Regional- und Stadtgeschichte als auch auf die der Grenzraumforschung und versucht im Rahmen der Mikrogeschichte, die Lebenswelt der Stadtbewohner unter veränderter Herrschaft aufzuzeigen und verzerrte Geschichtsbilder zu korrigieren. Ein wichtiger Aspekt in dieser Fallstudie sind die zahlreichen biographischen Skizzen, die die Alltagsgeschichte am Beispiel ausgewählter Personen darstellen sollen. Augustynowicz weist auf das Fehlen von Ego-Dokumenten hin, die bei den biographischen Skizzen jedoch durch Berichte über die jeweiligen Personen in den Archivmaterialien ausgeglichen werden konnten. Der Verfasser kann sich nur zum Teil auf Detailstudien polnischer Historiker zur Geschichte der Stadt Sandomierz stützen. Ergänzt werden die Themenbereiche sowohl durch Archivdokumente als auch durch gedruckte Quellen. Der Großteil des benutzten Quellenmaterials stammt aus polnischen Archiven, vornehmlich aus dem Staatsarchiv von Sandomierz und dem Hauptarchiv Alter Akten in Warschau, sowie aus Wiener Archiven wie dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, dem Hofkammerarchiv und dem Kriegsarchiv.

Im ersten Kapitel gibt der Verfasser einen Überblick über die Entwicklung der Stadt Sandomierz seit dem 10. Jahrhundert, folgt dann aber nicht weiter dem chronologischen Verlauf einer Stadtgeschichte, sondern stützt sich auf das von Fernand Braudel entwickelte Modell der drei Ebenen. In den weiteren drei Kapiteln befasst er sich mit der Herrschaftspraxis der jeweiligen politischen Systeme, mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten sowie mit dem Einfluss von Raum und Grenzen auf das Stadtbild und die Stadtbevölkerung. In letzterem Kapitel geht der Verfasser auf die Bedeutung der Weichsel als bedeutendes topographisches Element für die Entwicklung der Stadt und für die Lebenswelten der Stadtbevölkerung ausführlich ein. Gerade die spezifische Lage an dem Zusammenfluss zweier Grenzflüsse, der Weichsel und des aus dem galizischen Gebiet, wenige Kilometer südlich von Sandomierz, zufließenden San, führte hier einerseits zu einem regen Gütertransport- und ‑austausch, andererseits aber auch zu einem ausgeprägten Schmuggelwesen. Der Verfasser weist darauf hin, dass in dem Untersuchungszeitraum keine größeren Veränderungen im Stadtbild vorgenommen wurden, da man auf die vorhandene Bausubstanz zurückgreifen konnte und den Gebäuden eine den Bedürfnissen der jeweiligen politischen Herrschaft notwendige Funktion zuwies. Aus diesem Grund hätten sich die Behörden meist auf Renovierungen oder Umbauten beschränkt. Deutlich abgegrenzt von der christlichen Stadt war die seit dem 14. Jahrhundert existierende jüdische Gemeinde, deren Häuser und religiöse Institutionen sich im nordwestlichen Teil der Stadt befanden. Die im Laufe des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts in Sandomierz durchgeführten spektakulären Ritualmordprozesse schienen im Untersuchungszeitraum nicht mehr das christlich-jüdische Verhältnis zu belasten. Eine Erinnerung an die religiöse Verfolgung bzw. an die angeblichen Ritualmorde blieb jedoch in Form eines Gemäldes in der Kathedrale von Sandomierz erhalten, welches im kirchlichen Auftrag Anfang des 18. Jahrhunderts von Charles de Prévôt angefertigt worden war.

Das fünfte Kapitel ist der Entwicklung des Gesundheitswesens und des Bildungswesens in Sandomierz gewidmet. Das zuvor vornehmlich unter geistlicher Obhut befindliche Gesundheitswesen wurde in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts stärker unter staatliche Aufsicht gestellt, die dann nach der Annektierung des Gebietes im Jahre 1795 durch Österreich insbesondere durch die Regelung der Kompetenzen von Ärzten, Wundärzten und Hebammen weiter ausgebaut wurde. Wie der Verfasser in seiner Einführung betont, liegen mehrere Arbeiten zum Bildungswesen vor; dementsprechend wird dieses in der Studie auch umfangreicher behandelt. Besonders einschneidende Veränderungen erlebte das vornehmlich von Jesuiten und Piaristen geprägte mittlere und höhere Schulwesen in Sandomierz, denn nach der Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 1773 erhielten die Schulen unter der noch im selben Jahr in Warschau gegründeten Kommission für Nationale Erziehung völlig neue Lehrprogramme und mit der Einführung der polnischen Sprache als Unterrichtssprache ein weltliches Gepräge. Unter der kurzen österreichischen Herrschaft von 1795 bis 1809 wurde im Bildungswesen die polnische durch die deutsche Unterrichtssprache ersetzt, was wenig später im Herzogtum Warschau rückgängig gemacht wurde. In den nächsten Jahrzehnten während der kongresspolnischen Periode erwies sich dann die Einflussnahme der russischen Behörden auf die Schulen und das Lehrpersonal in als immer größer, insbesondere seit dem Beginn des Novemberaufstandes 1830, der zu einer strikten politischen Kontrolle über das gesamte Schulwesen und zur Forcierung des Russischunterrichts in den höheren Schulen führte. Dies wird in einer Tabelle, die den Unterricht in den Mittelschulen im Jahr 1822 und im Jahr 1840 gegenüberstellt, ganz deutlich (S. 299). Nicht nur die Schulen, sondern auch eine größere Anzahl von Druckereien und Bibliotheken stärkten die Stellung der Stadt Sandomierz als ein regionales Bildungszentrum, wie der Verfasser hervorhebt. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt wurde das Handwerk durch die Einrichtung einer Sonntagsschule im Jahre 1839 für Handwerker, die in jener Zeit mehrheitlich Analphabeten waren, gefördert und die berufliche Weiterbildung ergänzt. Eine Industrie konnte sich aufgrund der zunehmenden Marginalisierung der Stadt durch ihre periphere Lage und durch die den Warenaustausch einschränkenden Zollgrenzen nicht entwickeln. Dagegen schien der grenzüberschreitende Austausch im kulturellen Bereich weniger Einschränkungen erfahren zu haben, denn der Verfasser konnte aufgrund der Biographien einiger Akteure in der Stadt eine relativ hohe Mobilität, etwa beim Lehrpersonal oder bei einem Teil der Schülerinnen und Schülern, die aus Galizien kamen, nachweisen. Eine engere Beziehung zu Galizien konnte auch im Theaterleben festgestellt werden, denn in Sandomierz schienen insbesondere galizische Autoren große Anerkennung auf der Bühne zu finden; deutlich weniger habe sich das Theater dagegen von dem Warschauer Theaterleben beeinflussen lassen.

Jedem Kapitel folgen Zusammenfassungen, in denen die Forschungsergebnisse einer nochmaligen Überprüfung unterzogen werden. Das sechste und letzte Kapitel gibt einen Überblick über die Entwicklung der Stadt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart und enthält eine Zusammenfassung aller Ergebnisse der Studie. Quellenanhang, Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Personenregister schließen die auf innovativen Fragestellungen beruhende Studie zur Mikrogeschichte einer an der Peripherie gelegenen Kleinstadt in Ostmitteleuropa ab.

Isabel Röskau-Rydel, Kraków

Zitierweise: Isabel Röskau-Rydel über: Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772–1844. Münster: LIT, 2015. 362 S., 12 Abb., 16 Ktn., 34 Tab. = Europa Orientalis, 16. ISBN: 978-3-643-50669-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Roeskau-Rydel_Augustynowicz_Grenzen_und_Herrschaften.html (Datum des Seitenbesuchs)

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