Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Rüdiger Ritter

 

Kiril Tomoff: Virtuosi Abroad. Soviet Music and Imperial Competition During the Early Cold War, 1945–1958. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. XI, 262 S. ISBN: 978-0-8014-5312-0.

Dass der Kalte Krieg nicht nur eine politische Auseinandersetzung zwischen zwei Lagern war, sondern in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche eingriff, ist mittlerweile keine neue Erkenntnis mehr. In letzter Zeit sind vermehrt Studien vorgelegt worden, die das Gebiet der Kultur als Schauplatz des Kalten Kriegs ausloten und zeigen, wie auch Literatur, die Künste oder die Musik in den Dienst dieser Auseinandersetzung gestellt wurden. Kiril Tomoff reiht sich in diese Untersuchungen ein und betrachtet die Funktion der Musik in diesem Zusammenhang. Wie er in der Einleitung erklärt, benutzt Tomoff die Linse der klassischen Musik, „to reveal how – in competition after competition – Soviet short-term success hid from view a more decisive integration into a global order dominated by the United States.“ Es geht also um nichts weniger, als den Ausgang des Kalten Kriegs mithilfe der klassischen Musik zu erklären.

Um das zu tun, betrachtet Tomoff einzelne Fallbeispiele aus den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1958 genauer. Die Enge dieses Zeitraums angesichts der weitreichenden Fragestellung überrascht. Für Tomoff waren es aber diese Jahre, in denen sich die Auseinandersetzung hauptsächlich abspielte. Dieser Zeitraum gilt ihm als die Hochzeit des Wettstreits der Kontrahenten im Kalten Krieg auf dem Gebiet der Kultur – 1948 läutete die Ždanovščina eine Periode der verstärkten Propagierung sowjetischer Kultur auch im Ausland ein, und mit dem amerikanisch-sowjetischen Vertrag von 1958 wurde Tomoff zufolge der Kulturaustausch beider Supermächte in geregelte Bahnen gelenkt.

Im ersten Kapitel betrachtet Tomoff, wie sowjetische Politiker versuchten, den amerikanischen Gebrauch sowjetischer Musik in einem antisowjetischen Film, dem Streifen The Iron Curtain aus dem Jahre 1948, gerichtlich zu stoppen. Als Angriffspunkt benutzten sie dabei die Tatsache, dass die Musik von Komponisten wie Prokofev und Šostakovič und anderen offensichtlich ohne deren Zustimmung benutzt worden war. Dabei ging die Initiative nicht unbedingt von Kulturpolitikern aus Moskau aus, sondern von der Sowjetunion freundlich gesinnten Journalisten im Westen, die die sowjetischen Institutionen der Auslandskulturarbeit erst auf das Problem aufmerksam machten. Der Fall schlug nicht nur in den USA, sondern auch in anderen Ländern wie Belgien oder Frankreich hohe Wellen und endete mit eine Verurteilung der Filmgesellschaft „20th Century Fox“. Die Sowjetunion hatte das amerikanische Copyright-Gesetzeswesen erfolgreich für ihre Zwecke eingesetzt, sich dabei zugleich als gleichberechtigter Verhandlungspartner gezeigt – und die amerikanischen Spielregeln akzeptiert. Tomoff interpretiert diese Einlassung der Sowjetunion auf das System des internationalen Copyright-Gesetzeswesens sehr weitreichend als eine tendenzielle Aufgabe oder zumindest Einschränkung der Selbständigkeit der sowjetischen Kulturpolitik.

Im zweiten Kapitel zeigt Tomoff, wie sehr das System der Musikwettbewerbe in Europa, das sich aus ersten Anfängen in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts seit dem Zweiten Weltkrieg wesentlich erweitert hatte, schon sehr bald von sowjetischen Preisträgern dominiert wurde. Dabei waren die Musikwettbewerbe eine zentraleuropäische Erscheinung, die sowohl in den Ländern des Westens (Frankreich, Deutschland, Österreich als auch des Ostblocks (Polen, Tschechoslowakei) abgehalten wurden. Nationale, auf den Musikdiskurs bezogene und von der Konkurrenzsituation des Kalten Kriegs bezogene Dynamiken spielten bei der Einrichtung und der Durchführung dieser Festivals gleichermaßen eine Rolle. Besonders interessant ist der polnische Fall mit dem Chopin-Wettbewerb, in dem sich eine Spannung zwischen nationalen Ideen und Ansprüchen der staatssozialistischen Regierungen sowie der sowjetischen Kulturpolitiker auf der anderen Seite auftat. Tomoff zeichnet an einem einzelnen Beispiel detailliert nach, wie sowjetische Kulturpolitiker die Einladung ‚ihrer‘ Künstler“ organisierten und versuchten, auf den Erfolg Einfluss zu nehmen – am deutlichsten in Form unverhohlener Manipulation durch den polnischen Kulturminister Sokorski beim Chopin-Wettbewerb. Leider bleibt unklar, nach welchen Kriterien jeweils bewertet wurde. In vielen Fällen konkurrierten nicht einfach Künstler aus dem Westen oder dem Osten, sondern Vertreter unterschiedlicher musikalischer Schulen miteinander, so dass es zu kurz gegriffen ist, die Ergebnisse lediglich als Folge des Ost-West-Wettkampfes zu erklären. Eine Jury beispielsweise, die auf Grundlage des Neoklassizismus (der in der polnischen Komponistentradition eine große Rolle spielte) urteilen würde, würde Pianisten der russischen Schule mit großer Wahrscheinlichkeit keine herausragenden Preise verleihen – also aus kunstimmanenten Gründen, die zunächst einmal mit dem Ost-West-Gegensatz nichts zu tun haben.

Die eigentliche Herausforderung für die sowjetischen Kulturpolitiker bestand darin, abzuschätzen, inwieweit die Zusammensetzung der Jury erste Preise für sowjetische Künstler wahrscheinlich machte. Gerade in diesem Zusammenspiel von auf die Musik bezogenen Kriterien und Vorgaben der Konkurrenzsituation des Kalten Kriegs liegt die Besonderheit des Funktionierens der Musik als Feld propagandistischen Wettstreites. Leider deutet Tomoff diese musikalische Seite nur an.

Außerdem zeigt dieses Kapitel, dass es sich hier keineswegs nur um den Wettstreit zweier Imperien, nämlich der USA und der Sowjetunion, handelte. Darauf weist zum einen der Austragungsort der Wettbewerbe in Ost- und Westeuropa und zum anderen die Herkunft der meisten Wettbewerbsteilnehmer aus europäischen Staaten hin. Speziell im Fall der Chopin-Wettbewerbe kam neben den musikalischen Kriterien nicht nur ein Ost-West-Systemgegensatz, sondern auch der traditionelle polnisch-russische nationale Gegensatz zum Tragen, so dass das Paradigma des Kalten Kriegs zwar ein wichtiges, aber sicher nicht das einzige Kriterium ist, das zur Bewertung gerade dieses Festivals herangezogen werden sollte.

In den Folgekapiteln berichtet Tomoff über das sich entwickelnde System der Musikwettbewerbe, das seinen Höhepunkt im Jahr 1958 erreichte: Dabei geht es zunächst um die sowjetische Aneignung des Konzepts und dann um die Umsetzung in Form des Musikwettbewerbs in Moskau mit dem spektakulären Sieg van Cliburns. Das folgende Kapitel schließlich betrachtet die Entsendungen David Ojstrachs und Svjatoslav Richters vor dem Hintergrund der Kulturpolitik und der herrschaftspolitischen Überlegungen der Sowjetunion, und das fünfte Kapitel macht deutlich, wie die westliche Figur des Impresarios von den sowjetischen Kulturmanagern auf eine produktive Weise übernommen wurde.

Tomoff präsentiert die Sowjetunion also als durchaus erfolgreich im Wettbewerb der Supermächte auf dem Gebiet der klassischen Musik. Dass gerade diese Erfolge Gründe für das spätere Scheitern der Sowjetunion im Kalten Krieg gewesen sein sollen, wird aus Tomoffs kenntnisreichen Detailbeschreibungen selbst nicht deutlich. Seiner Ansicht nach tragen die Erfolge der Sowjetunion deswegen den Kern des späteren Scheiterns dieser zweiten Großmacht in sich, da die Sowjetunion sich zum Erreichen dieser Erfolge auf die vom Westen geschaffenen und dominierten Strukturen eingelassen habe. Um sein Argument zu verstehen, muss der Interpretationsrahmen berücksichtigt werden, den er in der Einleitung umreißt und in seiner Schlussbetrachtung wieder aufnimmt. Tomoffs These ist nämlich, dass der Erfolg der Sowjetunion auf kulturellem Gebiet zu einer Siegesgewissheit auch auf ökonomischem Gebiet geführt habe, die sich in den folgenden Jahrzehnten bis zum Ende des Kalten Kriegs jedoch nicht bewahrheitet habe.

Diese These ist durchaus eine genauere Betrachtung wert – allerdings liefert Tomoff nicht das nötige Material, um diese These auch genauer zu testen. So kenntnisreich sie sind, so konsequent beschränken sich seine Detailuntersuchungen auf die erwähnten Fallbeispiele, und sowohl der Interpretationsrahmen in der Einleitung als auch die Ausführungen der These am Schluss beruhen lediglich auf Interpretationen der Sekundärliteratur. Tomoff selbst stellt fest, dass die Frage, warum das sowjetische System zusammengebrochen sei, die Wissenschaftler noch längere Zeit beschäftigen werde, spricht jedoch zugleich seitenweise von der Gewissheit, dass es die ökonomische und konsumerische Unterlegenheit des Systems gewesen sei, die dafür verantwortlich gewesen sei. Die Verbindung zwischen seinen empirischen Untersuchungen und den allgemeinen Überlegungen zur Unterlegenheit des sowjetischen Systems verbindet er lediglich durch einige Zitate Chruščevs, in der dieser die erwähnte Siegesgewissheit aufgrund der Erfolge in der sowjetischen Kulturdiplomatie zum Ausdruck bringt.

An diesem Punkt bleibt der Leser daher etwas ratlos zurück. Die zweifelsohne interessante These wird zwar wortreich formuliert, aber nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit ausgeführt, wie es nach der Archivarbeit des Autors zu seinen Fallbeispielen eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Wesentliche Fragen bleiben offen: Welchen Stellenwert hatte Kulturdiplomatie nach 1958 für die Sowjetunion tatsächlich? Tomoff führt Jazz, Rock und Pop an, und wiederholt gängige Thesen zur Wirkung dieser Musikstile auf das sowjetische System in Analogie zur klassischen Musik, ohne jedoch darüber nachzudenken, ob diese Musikbereiche nicht möglicherweise ganz anders funktionierten als der Bereich der klassischen Musik. Wie sahen die ökonomischen Erfolge der Sowjetunion vor und nach 1958 denn tatsächlich aus? Welche Wechselbeziehungen zwischen ökonomischen Bedingungen und musikalischen Entwicklungen gab es in der Sowjetunion und wie wirkten sie sich auf die Systemstabilität aus? Ab wann und in welcher Form lässt sich ein Rückstand der Sowjetunion gegenüber den USA in ökonomischer, konsumerischer und technologischer Hinsicht erkennen, und wie ging diese Entwicklung mit dem Verlauf der sowjetischen Kulturdiplomatie einher? Die Antworten auf diese Fragen bleiben oberflächlich und gehen über das Referat einzelner Thesen aus der Forschungsliteratur nicht hinaus.

Tomoff liefert wichtige Detailuntersuchungen zur sowjetischen Musikdiplomatie in einer bestimmten Phase des Kalten Kriegs, übernimmt sich aber in der Einordnung und der übergeordneten Interpretation der Ereignisse. Die Betrachtung seiner These hätte weitergehendes Archivstudium auch zu anderen Zeiträumen nötig gemacht, und zwar in Bereichen, die weder mit Musik noch mit Kulturdiplomatie etwas zu tun haben. Darüber hinaus engt die These die Erkenntnismöglichkeiten über die Funktion von Musik im Kalten Krieg unnötigerweise ein: Musik war im Kalten Krieg weit mehr als nur ein Mittel, den Kalten Krieg zu ‚gewinnen‘ (eine ohnehin problematische Metapher). Musik stellte gerade im Kalten Krieg mit seiner Wettbewerbsstruktur eine Plattform des wechselseitigen Austauschs dar. Gerade in seinen Detailuntersuchungen demonstrierte Tomoff diesen Aspekt, freilich ohne dieses Phänomen als solches zu kennzeichnen: Seine Fallbeispiele demonstrieren eindrücklich, dass der Wettstreit der Supermächte zu einer Art gemeinsamem Vorgehen führte: Sowjetische Musikwettbewerbe wurden für ihre Organisatoren als Mittel der Auslandskulturarbeit erst durch eine US-amerikanische Beteiligung wichtig, ebenso wie US-amerikanische Kulturpolitiker während des Kalten Kriegs nach Kräften dafür sorgten, ihre Kulturarbeit in die Sowjetunion hineinzutragen. Diese gegenseitige Anwesenheit bewirkte im Endeffekt eine beidseitige Förderung des Musiklebens, aber auch eine wesentliche Steigerung der Politisierung des Musiklebens.

So positiv es ist, dass Tomoff die sowjetischen Verhältnisse kenntnisreich und differenziert von innen heraus betrachtet, so sehr fehlt hier doch die Einbeziehung der anderen Seite. Wenn er etwa – zu Recht – darauf hinweist, dass die Klaviertechnik der „Russischen Schule“ den Kalten Krieg überdauert habe, so ist darauf hinzuweisen, dass die Technik ja auch im Westen Einzug hielt und Anerkennung fand. Der Kalte Krieg erwies sich hier als Katalysator für gemeinsame Entwicklungen, die ohne den Systemgegensatz und ohne die daraus resultierende massive Förderung der Künste und der Musik so nicht eingetreten wären. Es engt den Blick ein, hier nur den Fehlschlag des sowjetischen Projekts zu betonen, sondern es wäre vielmehr sinnvoll gewesen, die Entstehung einer Kultur des Kalten Kriegs ausfindig zu machen. Liest man Tomoffs Studie mit Augenmerk auf Aspekte dieser Art, dann erlaubt die Detailfülle eine ganze Reihe interessanter Einsichten.

Rüdiger Ritter, Bremerhaven

Zitierweise: Rüdiger Ritter über: Kiril Tomoff: Virtuosi Abroad. Soviet Music and Imperial Competition During the Early Cold War, 1945–1958. Ithaca, NY, London: Cornell University Press, 2015. XI, 262 S. ISBN: 978-0-8014-5312-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Ritter_Tomoff_Virtuosi_Abroad.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2018 by Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Rüdiger Ritter. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.